# 480: BOOK OF THE WEEK — “Mystik und Seelsorge”

Silke Schmidt
9 min readJul 23, 2023

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Boldt, Johannes (2016). Mystik und Seelsorge: Ein Beitrag zur mystagogischen Spiritualität in der Seelsorge.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Am härtesten ist es immer über Bücher zu schreiben, bei denen ich bei fast jeder Seite ein Eselsohr geknickt habe und viel markiert. Was sind da die herausragendsten Passagen? Doch darum geht es ja eigentlich auch gar nicht. Meine Beiträge sollen einen Geschmack vom Buch vermitteln, mehr nicht. Ich habe selbst nicht den Anspruch, das „Allerwichtigste“ abzubilden, denn der Auswahl liegt meine Subjektivität zugrunde und die Tatsache, dass auch für mich schon morgen ganz andere Passagen „relevanter“ sein könnten, allein weil meine Lebenssituation es so will.

Dieses Buch spricht viel über die individuelle Lebenssituation und –geschichte des Einzelnen. Ich habe es schnell und mit Begeisterung gelesen. Tatsächlich geht es zweitrangig um die Menschen, die Seelsorge erhalten. Es ist also keine Anleitung, um Menschen mit „Mystik“ zu helfen. Vielmehr geht es um das, was ich mir erhofft hatte (falls ich überhaupt etwas gehofft habe): Es geht um die Mystik der Seelsorger/innen. Dabei kann Mystik, so schildert es auch Boldt zusammen genommen, als Erfahrung von und mit Gott definiert werden (siehe hierzu auch mein Beitrag “Die christliche Mystik”).

Schade nur, dass man solche Bücher „nur“ bei den Katholiken findet. Oder ich habe nicht richtig gesucht. Jedenfalls habe ich dieses Buch hier gefunden, weil ich explizit nach Mystik und Seelsorge gesucht hatte. Vor einigen Tagen schrieb jemand in ein Empfehlungsschreiben zu mir, dass ich spirituell ohne feste Prägung sei. Das trifft es auf den Kopf. Wenn ich ein solches Buch lese, weiß ich, dass ich genauso gut und vielleicht noch viel besser katholisch sein könnte. Das ist aber Quatsch. Denn ich bin es schon, genauso wie ich viele andere Dinge „bin“ — und eben nicht „nur“ protestantisch, nur weil das in irgendwelchen Mitgliedsbüchern steht.

Worauf ich hinauswill: Dieses Buch ist wunderbar, denn es beschreibt in schöner, einfacher und lebendiger Sprache, wie Mystik und Seelsorge zusammenhängen müssen, wenn Menschen wirklich andere Menschen in der Seele berühren möchten. Mystik verbindet — vereint. Das geht nur mit diesem Licht von innen heraus, das von der Quelle kommt, die Christen eben Gott nennen. Darin gehe ich eben noch einen Schritt weiter als der Autor, indem ich die göttliche Quelle nicht nur auf das Christentum beziehe.

Aber das macht nichts. Vom Anliegen her gedacht; vom Argument her nämlich, dass der wahrlich Seelsorgende mystische Erfahrung gemacht haben oder sich zumindest darauf zubewegen sollte, stimmen wir überein. Und ich bin dankbar, dass mich dieses Buch gefunden und bestärkt hat, den Weg nicht nur vor vielen Jahren angetreten zu haben, sondern auch mit anderen zu teilen. Das klingt vielleicht verrückt und esoterisch, aber das macht nichts. Genau dieser Weg ist es ja, der so unerschütterlich individuell und unabhängig in Freiheit ist, der sich jeder (Selbst-)Wertung entzieht. Nur so kann man ihn weitergehen und das Licht mit anderen teilen — nicht nur mit Christ/innen, aber eben auch.

Auf dem Weg zu sich selbst…

  1. Übersetzung
Boldt 17

Was ich so wunderbar an Boldt finde, und damit auch an Johannes vom Kreuz, auf den er sich im Wesentlichen bezieht, ist immer wieder das Hervorheben der Individualität dieses geistlichen Weges. Das macht die Heiligen menschlich, um es kurz zu fassen. Wann immer wir über Heilige oder auch nur über „Ordensmenschen“ in der Geschichte lernen, dann stülpt sich uns oft dieses Musterdenken über. Wir denken über „diese Geistlichen“ irgendwie in einer Kategorie. Sie kamen entweder aus der Armut oder aus dem Adel, gingen dann durch eine harte Glaubensschule und verloren sich schließlich in der Selbstaufgabe des kirchlichen Dienstes, meistens im Kloster. So oder so ähnlich fallen sie alle in ein “Muster” in unserem Denken.

Boldt hebt immer wieder hervor, dass jeder dieser Menschen seinen ganz eigenen Weg ging. Und das macht es leichter für uns heute, diesen eigenen Weg wertfrei anzunehmen. Wir können uns nicht damit „trösten“, dass es doch bei dem oder der so oder so lief mit dem geistlichen Erwachen und dann ist es bei uns auch so. Nein, wird es nicht sein. Denn, wie ich schon so oft geschrieben habe: Das wahrlich verbleibende Einzigartige in unserer Welt, in der man mittlerweile ALLES kopieren und vervielfältigen kann, sogar unsere DNA, ist unsere Lebensgeschichte. So wie unser Leben jede einzelne Sekunde passiert und passiert ist, wird es sich nie wieder im Leben eines anderen wiederholen.

Wenn Boldt nun von dem „Versuch“ redet, den der Mystiker unternimmt, um andere an der Gnade teilhaben zu lassen, die seiner Erfahrung zugrunde liegt, dann sind wir direkt beim Thema Seelsorge, ohne, es direkt darauf anzulegen. Denn ein Mensch, der voller Freude ist — vollends geheilt, um den Begriff zu verwenden — der wünscht sich nichts mehr auf der Welt, als dass andere dieses Geschenk auch erfahren. Vielmehr noch, er wird sich seiner eigenen Kraft gewahr; dem Leuchten, das er/sie in sich trägt. Um das weiter zu geben, braucht es Übersetzung. Doch diese findet eben nicht nur in Worten statt, sondern im ganzen SEIN des Menschen, der sein Licht und seine Freude ausstrahlt.

Damit wird auch klar, warum Mystik nichts ist, was sich hinter Klostermauern versteckt oder verstecken müsste. Und ich denke, das ist eine wichtige Erkenntnis, die gerade Suchende selbst immer wieder in Erinnerung rufen dürfen. Ja, die mystische Erfahrung bedarf der Contemplation auch in Abgeschiedenheit von der Welt. Doch sie braucht ebenso, da bleibe ich bei meiner Erfahrung und meinem Weg, das weltliche Leben und das Handeln mit den Menschen darin. Dabei geht es nicht nur um das Geben, sondern es geht um die wechselseitige Beziehung zwischen Anbieten und Aufnehmen, zwischen Inspiration und Contemplation der Erfahrung.

Allein der genaue Ort dieses Wirkens bleibt dem wandelnden Mystiker oft lange verschlossen, bis er realisiert, dass er ihn sich selbst verschließt, weil er eben noch nicht ganz da ist, wo ihn Gott hinführen wird.

Das lehrt Geduld und Demut.

2. Spanische Liebesmystik

Boldt 36

Diesen Begriff hatte ich zuvor noch nie gehört oder gelesen — „Liebesmystik“. Er ist so schön. Liebe an sich, wirkliche Liebe, ist die tiefste mystische Erfahrung auf Erden, finde ich. Nicht jedem wird sie zuteil, der sie nicht sucht. Jedenfalls teile ich komplett die Einschätzung von Boldt, dass die Mystiker Spaniens eine eigene Mystik vertreten haben, die uns heute gut tut. Und für mich schließt sich hier ein Kreis. Denn wer in meinem Blog an die Anfänge schaut, wann auch immer das war, liest darin Buchbesprechungen zu Teresa von Avila und, zwar nicht aus Spanien, Madame Blavatzky. Das waren diejenigen, die mir Lust auf Theologie und vielleicht sogar auf Kirche gemacht haben, da sie ihre Mystik in die Welt gebracht haben.

Diese Weltzugewandtheit ist es, die Boldt insbesondere bei den Spaniern hervorhebt. Aber natürlich werden jetzt die Deutschen und andere sagen: “Das ist doch Quatsch, unsere Heiligen haben doch auch in der Welt gewirkt.” Ja, vielleicht. Trotzdem sehe ich, was Boldt meint. Genau wie die mystische Erfahrung aber nicht in Worte zu fassen ist, so kann ich vielleicht auch diesen Unterschied hier, noch weniger gut als der Autor, in Worte fassen. Eventuell liegt es auch einfach an der anderen Kultur und Energie, die eben Spanien umgibt. Allein in meinen Erinnerungen an die Bücher über diese spanischen Heiligen breitet sich eine Wärme in meinem Herzen aus, die ich beim Lesen über deutsche Mystiker nie hatte.

Anzumerken ist auch, und das tut auch Boldt an anderer Stelle, dass es eben häufig Frauen waren, die den mystischen Weg gingen oder zumindest in die Geschichtsbücher eingingen. Das an sich ist für mich kein „Wunder“. Ich gehöre zu jenen, die daran glauben, dass die weibliche Energie die ist, die uns mit der Erde und damit auch mit der göttlichen Erfahrung verbindet. Das heißt nicht, dass Männer diese nicht machen können, denn schließlich zeichnet den „Erleuchteten“ genau die Harmonie der beiden Kräfte aus. Trotzdem steht Frauen ein Zugang offen, den Männer einfach nicht haben. Und genau deshalb ist es auch so frustrierend heute in die Welt zu schauen und zu sehen, dass Frauen noch viel weniger dafür kämpfen, ihre besondere „Magie“ auch in die Welt zu bringen — gegen jeden Widerstand.

Was mich auch berührt hat, und das hatte ich schon fast wieder vergessen, ist, dass die Spanier auch Lyrik betrieben haben. Allein Johannes vom Kreuz kenne ich nicht nur aus der Verbindung zu Teresa von Avila, sondern von seinem Gedicht über die “dunkle Nacht der Seele”. Auch darüber schrieb ich bereits kurz an anderer Stelle. Auch das unterstreicht auf ganz greifbare Weise, wie sehr der Mystiker, der vom Göttlichen inspiriert ist, dieser Kraft in der Kunst, in diesem Fall im Schreiben, Ausdruck verleihen kann und vielleicht sogar muss. Dieses Geschenk des Schreibens ist Teil des Leuchtens, des „sich in die Welt Bringens“ und gerade für jene, denen ihr Wirkungsstätte noch nicht eröffnet wurde, ist es das einzige Ventil, andere an ihrer Kraft teilhaben zu lassen.

3. Selbsterkenntnis

Boldt 71

Lange habe ich mich gefragt, wann das angefangen hat, die Suche nach sich selbst. Warum stellen sich andere diese Frage nicht täglich? Warum musste es mich treffen? Irgendwann lernt man, dass diese Fragen einem nur im Weg stehen, um eine Antwort zu finden. Trotzdem ist es genau das, was, laut Juan de la Cruz, am Anfang des Weges stehen muss. Bezeichnend daran ist, dass man an dieser Stelle des Weges noch überhaupt keine Ahnung von Mystik haben muss. Diese Verbindung zum „Göttlichen“, zu Glaubensthemen und vielleicht sogar kirchlichen Wirken, kann sich erst viele Jahre später offenbaren. Wichtig ist jedoch zuallererst das Zulassen und das Nicht-Stehenbleiben.

Das Zulassen dieser Frage nach dem wahren Selbst ist quälend. Man möchte sie loswerden um jeden Preis an vielen Stellen. Man versucht, sich in das normale Leben zu flüchten, in dem Menschen Jobs, Hobbies und Geld haben. Und dann tut man das vielleicht sogar wieder und stellt fest, dass einen das genausowenig glücklich macht wie früher — noch viel weniger sogar. Und dann gibt man sich Stück für Stück der Kraft der Natur und des göttlichen Seelenplans hin, was auch immer das ist. Das weiß man nicht. Darauf kann man sich nur einlassen, gerade weil man es nicht weiß. Es ist eben wie die Suche nach einer großen Liebe, von der man über lange Strecken nicht glaubt, dass es sie wirklich gibt, bis sie leibhaftig vor einem steht.

Und dann ist es trotzdem noch ein langer Weg, den Lebensweg gemeinsam mit ihr zu gehen.

Der Weg der „Reinigung“, den Boldt hier aber beschreibt, steht dieser Vereinigung im Wege. Und hier würde ich sagen, dass wir durchaus in einer Zeit leben, in der das Reinigende für manche wieder Wichtigkeit hat. Damit meine ich nicht nur das Reinigende im Sinne von Fasten oder der Vermeidung von Drogen, etc. Ich meine auch das äußerliche Entmüllen; das Aufgeben von materiellen Dingen, die schlichtweg Ballast auf der Reise des Lebens bedeuten. Das ist nicht trivial und wie auch Boldt durchweg immer wieder in Anlehnung an Johannes vom Kreuz anmerkt, gehen Innerlichkeit und Äußerlichkeit Hand in Hand. Das Äußerliche ist ein Abbild des Inneren. Und nur wer seine Seele reinigt, kann auch im Außen Dinge loslassen, die ihm zuvor lieb und teuer waren.

Für mich war es heute ein Geschenk, dieses Buch zu lesen — ein Geschenk an mich selbst. An Tagen, in denen eben jener mystische Weg schier unaushaltbar wird, tragen die literarischen Welten weiter. Und wenn in diesen Welten die Brücke zwischen dem mystischen Mittelalter und der Seelsorge des 21. Jahrhunderts auf so harmonische und pragmatische Weise gebaut wird wie in diesem Buch, dann gibt das Hoffnung, dass es auch heute in dieser bunten und technologischen Welt noch Platz für Menschen gibt, die ausgewählt wurden, einen anderen Weg zu gehen — ihren ganz eigenen. Den haben sie sich nicht ausgesucht. Aber sie gehen der Suche nach sich selbst weiter in Hoffnung und Liebe, die sie teilen wollen.

Reflexionsfragen

1) Was verstehst Du unter „Mystik“? Verwendest Du den Begriff „mystisch“ ab und an?

2) Hast Du manchmal das Gefühl, dass Du in einem anderen Land mehr „zu Hause“ bist als in Deutschland? Was lässt Dich das spüren?

3) Stimmst Du zu, dass Selbsterkenntnis ein wichtiger Teil ist, um ein glückliches Leben zu erlangen — auch abseits von Gott oder mystischer Erfahrung? Was war eine wichtige Selbsterkenntnis, die Dich weitergebracht hat?

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