# 471: BOOK OF THE WEEK — „Die christliche Mystik”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Bücher zur Mystik sind meine Bücher, da führt kein Weg dran vorbei. Die Mystik war und ist mein Glaubensweg. Und schon stellt sich der/die Leser/in die Frage: Und was genau ist Mystik? Darauf gibt auch Leppin keine klare Antwort, weil es sie schlichtweg nicht gibt. Es gibt keine Definition von etwas Undefinierbarem, das man im Allgemeinen als „Einheit mit Gott“ bezeichnen kann. Es gibt jedoch Erzählungen darüber, so dass Narrative selbst letztlich zum einzigen Anker der Definition von „Mystik“ werden. Mir reicht das. Darin steckt die für mich nicht überraschende Erkenntnis, dass alles im Leben in Geschichten mündet und in ihnen auch neue Ursprünge nimmt. Und ich finde es bereichernd, dass auch die Theologie sich diesen Zugängen zunehmend interdisziplinär öffnet.
Mir fiel es trotzdem nicht leicht, dieses Buch zu Ende zu lesen. Viele Wochen kämpfte ich darum. Es hatte nichts mit dem Buch an sich zu tun. Es hatte damit zu tun, dass ich nicht lesen konnte. Es waren wieder Wochen, in denen die Konzentration auf die Zeilen schwer fiel. Und es war noch schwieriger, sich auf Theologie einzulassen. Sie macht mittlerweile den Großteil meiner Zeit aus — zumeist “praktisch”. Doch gleichsam versuche ich, vor ihr weg zu laufen — zumindest im wissenschaftlichen Sinne. Heute gab es dann ein Erlebnis, das mir gezeigt hat, dass da doch viel von der Wissenschaftlerin in mir übrig ist, die ich lange versucht habe, von mir „abzuspalten“. Da war zu viel Schmerz und zu viel Gegenwehr. Alle Themen und Interessen waren überlagert von persönlichen Erfahrungen, die dazu führten, dass ich Wissenschaft an und für sich ablehnte und aus meinem Leben — aus meiner Seele — verbannen wollte.
„Was Du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es Dir — für immer.“ Konfuzius
Ich weiß nicht, ob ich die Wissenschaft (noch) liebe. Doch losgelassen hatte ich sie definitiv und in mehreren Anläufen. In den letzten Wochen schlich sich da aber wieder wirkliches Interesse, ich würde gar sagen, Verlangen ein. Irgendetwas in mir vermisst diese Ruhe, die nur die geistige Beschäftigung mit einem Thema zu geben vermag. Es ist wie eine Speise, die man anders nicht bekommt, egal, wie viele unterschiedliche Ersatzzutaten man ausprobiert. Es gelingt nicht. Der Geschmack ist nicht der gleiche. Der Magen wird nicht voll. Die Seele bleibt hungrig. Irgendwann vergisst man den Geschmack ganz. Aber der Hunger bleibt.
Es stimmt, dass eine hungrige und suchende Seele nicht durch irgendetwas anderes außer sich selbst und ihre Beziehung zum Großen Ganzen zur Ruhe kommen kann. Doch genau dieses Große Ganze findet sie in der Beschäftigung mit etwas, nach der ihr langt — aus den Tiefen des Inneren heraus. Dass Wissenschaft damit etwas zu tun haben könnte, wollte ich lange nicht sehen — habe es mir eventuell nicht zugetraut. Zu verletzt und verwundet war das Ich, das vor sich selbst weglief. Und doch schlich sich diese Erkenntnis immer klarer ein, dass „loslassen“ zwar wichtig war, aber dass „Annehmen“ auch wiederkehrte.
Heute dann ging alles ganz schnell: Eine Erfahrung auf einer Tagung machte mir klar — „Ja, Du kannst Deine wissenschaftliche Vergangenheit nicht von der Festplatte löschen. Du denkst kritisch. Du denkst schnell. Du schluckst nicht alles. Dir ist es wichtig, dass die Menschen im Publikum nicht für dumm verkauft werden. Noch wichtiger ist Dir ihre Würde und die Tatsache, dass sie ein Recht auf wissenschaftliche Erkenntnisse haben.” Und, ja, dazu ist jeder fähig, wenn man es ihm/ihr mit den richtigen und einfachen aber trotzdem gut recherchierten Worten erklärt. Noch viel wichtiger aber: Niemand verdient es, diskriminierend behandelt zu werden und das teils noch nicht mal zu merken, weil alles unter dem Motto läuft: „Ach, wie unterhaltsam und so kurzweilig dargeboten.“
Ja, das alles ist meine Wahrnehmung.
Und die durfte sein.
Und ich nahm sie an.
Und ging.
Ganz ich selbst in Frieden.
Es war ein wunderschöner Nachmittag.
- Zerstörung des „Ich“
Die Zerstörung des Egos, was nichts anderes als das oben Beschriebene ist, ist Gotteserfahrung. Es ist egal, ob der Erfahrende das so benennt oder (an-)erkennt. Es verändert den Menschen. Manche erfahren es „aus heiterem Himmel“. Manche suchen lange danach und zögern das Eintreten dieser „Ich-Zerstörung“ damit ungewollt hinaus, da man es nicht erzwingen kann. Wann es geschieht, ist letztlich egal. Bereits der Weg dahin, verändert das Ich, bis es schließlich ganz losgelassen wird und dem weicht, was schon immer da war, aber von dem überdeckt wurde, was der Mensch sich als Identität aufgebaut hat.
Bernhard von Clairveaux fasziniert mich. Ich werde mehr von ihm und über ihn lesen. Und ich werde mehr Theologie lesen. Oder nicht? Was ist das mit dem Interesse? Lasse ich es nicht zu? Habe ich Angst? Was bringt mich dazu, mich immer wieder anzunähern und mich dann wieder weg zu drehen? Ist es die Angst, sich einzulassen? Ist es die Angst, dass ich etwas finden könnte, was mein Leben wirklich und noch tiefgreifender verändert als alle Veränderungen davor? Ist es die Angst vor der Wissenschaft, die sich mit alledem vermischt ? Ist es mein Ego, das sich nicht eingestehen will, dass es ausgeliefert ist wie alle anderen in diesem System der Wissensproduktion und doch wider jede Ratio weitermacht?
Die Antwort ist: „ja“ — da bin ich mir mittlerweile sicher.
Und ich vertraue darauf, dass sich alles fügt.
Nur kann ich es nicht sehen, vielleicht annähernd spüren.
2. Wüste
Schon oft habe ich über die Wüste geschrieben, zumindest am Rande. Für mich ist es in der Tat der Ort, an dem ich voll und ganz „Mensch“ bin. Und letztlich ist das „Nichts lieben“ in der kargen Landschaft der Wüste die Einheit, die der Einheit mit Gott entspricht. Die Wüste bringt Freiheit von allem Überfluss. Und das Abstreifen des alten „Ich“ geht eben auch mit dem Loslassen materieller Dinge einher. Für mich war es eine wesentliche Erkenntnis, dass die Wüste in der Bibel eine entscheidende Rolle spielt. Das weißt jedes “Kind”, das mal irgendeine Geschichte aus dem Alten Testament gehört hat. Doch auch hier muss ich sagen: Ich habe mich noch nicht genähert. Es steht etwas dazwischen, das mich von der Schrift trennt. Die Wüste der realen Welt aber zieht mich fortwährend an. Sie ist mir Heimat und Sehnsuchtsort und leitet mich.
3. Worte lieben
Meine erste nähere Begegnung mit der Bibel fand während einer Bibelwoche statt, in der das Hohelied Thema war. Das muss mittlerweile mind. 15 Jahre her sein. Ich hatte damals keine Ahnung von Bibel (noch weniger als heute) und ich war noch nicht gläubig. Trotzdem erinnere ich mich heute so gern daran, dass ausgerechnet dieses außergewöhnliche Buch meine einzige Beschäftigung mit der Schrift war. Und ich konnte den Worten nichts abgewinnen. Genau darin findet sich, was oben geschrieben ist: Ich habe sie nicht mit dem liebenden Herzen gelesen, das mir heute zuteil ist. Und vielleicht ist die Tatsache, dass ich die Worte noch immer nicht in mir aufsaugen kann, ebenfalls Zeichen, dass ich noch nicht ganz in der Liebe angekommen bin. Das ist keine Selbstkritik. Das ist eine Beobachtung. Das ist, wie es ist. Und doch wird langsam klar, dass die Suche nur Erfüllung findet, wenn ich mich dem Wort gegenüber in Liebe öffne.
Das habe ich schon erlebt.
Es schenkt neues Leben.
Der Glaube rettet Menschen.
Er lässt sie sehen,
dass sie gesehen werden.
Dafür müssen sie gar nichts tun,
nur vertrauen in das Ungewisse.
“Dass die Braut im Hohenlied sagt: <<Zieh mich hinter dir her>> (Hld 1,4) wird Bernhard zum Beleg dafür, dass es nicht die Kraft der Seele ist, die sie zu Gott führt, sondern ausschließlich die Kraft Gottes, die die Seele emporzieht.”
Reflexionsfragen
1) Wenn Du Dein „Ich“ von heute mit dem von vor 10 oder 20 Jahren vergleichst — ist da etwas Neues, Anderes? Ist da vielleicht einmal etwas in Dir vermeintlich „gestorben“ und hat etwas anderem an die Oberfläche verholfen?
2) Was hältst Du von dem Gedanken, das „Nichts“ zu lieben? Magst Du die Wüste? Warum/nicht?
3) Kannst Du die Idee von unterschiedlichen Ebenen der Liebe nachvollziehen — bis hin zu eine geistigen Liebe zu Gott, die alle anderen Liebesformen übersteigt und zugleich verändert?