# 525: BOOK OF THE WEEK — “Die Revolte des Körpers.”

Miller, Alice (2023/2005). Die Revolte des Körpers.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Offensichtlich ist das bereits das dritte Alice Miller Buch in den letzten Wochen. Das zeigt deutlich, dass da viel innere Arbeit geschehen ist. Aber ich kenne das — diese großen Sprünge im Bewusstsein sind immer „im Bulk“ passiert. Fast genau vor einem Jahr war eine der wichtigsten Phasen, als ich viel im Ausland unterwegs war und ebenfalls zum Zusammenspiel zwischen Körper und Seele gelesen habe. Dazwischen ist nicht nichts geschehen, aber es brauchte viele Zwischenschritte, die mich schließlich zu Millers Werken führten. Da sind prinzipiell keine ganz „neuen“ Erkenntnisse für mich zu finden. Aber wie immer bei Büchern ergibt sich der Aha-Effekt aus der Tatsache, dass das Erlebte und Gedachte von einem Menschen bereits niedergeschrieben wurde, der mit Fug und Recht dazu etwas zu sagen hat und es auch auf wissenschaftliche und praktische Füße stellt.

Die Revolte des Körpers knüpft an die vorher besprochenen Bücher von Miller an. Der Fokus liegt hier offensichtlich stärker auf dem Körper, wobei man nicht behaupten kann, dass der Körper in den anderen Werken ausgegrenzt wird. Vielmehr leben Millers Erkenntnisse ja gerade von dieser Einheit, die von der Psychoanalyse und der Schulmedizin erst verhältnismäßig spät anerkannt bzw. als relevant angenommen wurde. Für mich war diese Verbindung aufgrund meiner eigenen Geschichte seit Jahren klar. Aber „Klarheit“ ist trotzdem immer verstandesbehaftet. Es dauerte nun noch fast 15 Jahre, diese Verbindung mit dem eigenen Körper und Geist noch mehr zu ergründen und das Spüren dieser Zusammenhänge zu erlernen bzw. wieder zu finden. Damit meine ich, dass wir alle mit dieser Grundausstattung des gesunden Seins geboren werden, aber dann bereits seit der Geburt durch unsere familiären und sonstigen Lebensumstände davon wegerzogen werden.

Gestern noch telefonierte ich mit einem Bekannten, der mir erzählte, dass er sich wunderbar fühlte. Ich fragte, wie das komme. Er meinte, eine Hautkrankheit, die ihn schon lange, vielleicht solange er denken kann, plagt, sei jetzt fast verschwunden. Er habe sich ein Medikament spritzen lassen, dass „sauteuer“ sei und kaum von der Krankenkasse übernommen werde. Es müsse nun kontinuierlich in regelmäßigen Abständen verabreicht werden. Ich fragte nach den Nebenwirkungen, von denen er mir einige sofort schilderte. Aber das sei „nichts“ gegen die sonstigen Beschwerden. Ich freute mich einerseits für ihn, verwies aber auf das gerade gelesene Buch von Miller, die sehr deutlich den Zusammenhang dieser chronischen Krankheiten und der Psyche behandelt. Er äußerte aufgrund seiner Reflektiertheit sofort, dass das wohl stimme. Es war aber auch deutlich, dass er an diese „Baustelle“ nicht ran wollte.

Mit anderen Worten: Wir doktern gern an den Symptomen herum, sogar wenn uns dies zusätzliche Leiden durch Nebenwirkungen beschert.

Dieses Phänomen betrifft nicht allein den persönlichen Umgang mit „Krankheiten“. Auch professionelle Unterstützungssysteme basieren vielleicht sogar größtenteils auf diesem Prinzip, das von einigen Patient/innen eben gewünscht ist, von anderen aber nicht. Das genau zeigt das Beispiel meines Bekannten ja. Der Arzt macht einen Gewinn aufgrund der Tatsache, dass sich hier jemand nicht mit den psychischen Ursachen der körperlichen Beschwerden beschäftigen will. Und das, wohlwissend, dass es so ist. Aber natürlich hat er Gründe dafür, die ich nicht werte. Gleichermaßen ist auch klar, dass der Arzt ihn nicht dazu drängen wird, schließlich kann er ihm zumindest die gewünschte Linderung durch das Medikament bescheren und wird dabei nicht ärmer.

Ich las gerade vor einigen Tagen zu dem Thema „Herumdoktern an Symptomen“ in einem Interview zu Magersucht. Dort beschrieb eine Betroffene genau das: Man laborierte in den Kliniken an ihrem Gewicht und dem Thema Essen. Jede/r Essgestörte weiß aber spätestens nach erster Beschäftigung mit der eigenen Krankheit, dass das nur die Oberfläche ist. Darunter gibt es Bedürfnisse und Gefühle, die nie gehört und ausgedrückt werden durften — aus sehr unterschiedlichen und oft unbewussten Gründen. Jedenfalls geht auch Miller auf das Thema Essstörungen ein mit dem besonderen Hinweis, dass es sich hier um eine sehr komplexe und schwere Erkrankung handelt. Doch, wie auch die Betroffene im Interview klar macht, man kann sie nicht mit Psychopharmaka oder Essensplänen „bekämpfen“.

Die Lösung liegt, vielleicht für manche überraschend, in einer „Therapie“, die in erster Linie gar nichts mit Krankheit zu tun hat. Es geht schlicht und ergreifend um eine “wahre” und authentische Kommunikation (Miller 160), wie es Miller in dem Kapitel zum Thema bezeichnet. Mich wundert, dass ich in den ausgewählten Passagen unten kein Beispiel dazu genommen habe, aber so belasse ich es bei diesen zusätzlichen Gedanken ohne weitere Textstellen. Was für mich augenöffnend war an Millers Gedanken dazu war genau dieses Herausarbeitung von ernstgenommen werden und angenommen sein als zentraler Heilungsschlüssel und als wesentliches Bedürfnis von Betroffenen. Genau das ist es, was gerade die Begabten und Empfindsamen, die sich häufig (aber natürlich nicht “nur”) unter Magersüchtigen und anderen Essgestörten finden, nie ausreichend erfahren durften. Dieses Brauchen, dieses Gefühl für diesen Mangel und die Wut darüber, dass die Befriedigung des Bedürfnisses nicht gelingt, wird erst langsam im Prozess der Heilung gespürt und bewusst gemacht.

Es tut mir aktuell weh, dass mir genau diese authentische Kommunikation und das Verständnis gegenüber einem besonderen Menschen nicht gelingt.

Es liegt aber nicht daran, dass wir beide es nicht grundsätzlich können und/oder wollen.

Es liegt vielmehr daran, dass wir uns beide sehr ähnlich sind und ein so großes Bedürfnis nach dem Verständnis unserer starken Empfindungen und Gedanken haben, dass wir es nicht auf die Reihe kriegen, es uns selbst und gegenseitig zu geben.

Was bleibt, ist die Hoffnung,

dass sich das ändert.

  1. Befreiung durch Schreiben?
Miller 37

Nach dieser langen Hinführung kann ich es bei dieser ersten Stelle ganz kurz machen: Ja, ich teile das, dass das Schreiben für Schreibende zum Überleben hilft. Ganz befreien kann es aber nicht. Es ist ein Ventil, mit den angestauten Empfindungen und Beobachtungen umzugehen, aber die Ursache, warum sie immer wieder Schmerz bereiten, ist damit nicht berührt. Dies gelingt in der aktiven (therapeutischen) Auseinandersetzung mit sich selbst auf Basis der wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisse, die eben Miller schildert.

Ansonsten wäre es wohl kaum der Fall, dass sich so viele geniale Literaten selbst um das Leben gebracht hätten — ob nun durch „Freitod“ oder eben Krankheiten und Unfällen aus Übermut, die sie schließlich das Leben kosteten. An diesen Biographien, wie auch von Miller eingehend erforscht, kann man sehr deutlich den Zusammenhang von Psyche, Physis und Kreativität ablesen. Gleichwohl ist, das habe ich im letzten Beitrag zu Millers Buch Evas Erwachen beschrieben, die innere Heilung nicht das Ende der Kreativität. Im Gegenteil, ich würde sagen, die innere Befreiung bewirkt auch einen verstärkten und ungehinderten Fluss der kreativen Energie.

2. Echte Liebe und Caritas

Miller 51

Ich habe mich nie mit Rimbaud auseinander gesetzt. Doch die Schilderungen zu seiner Biographie von Miller waren wie ein Spiegel. Ganz besonders viel hat bei mir der Hinweis zur Caritas ausgelöst. Auch ich habe mich in den letzten beiden Jahren verstärkt dem Wohle anderer und dem Helfen hingegeben. Daran ist prinzipiell nichts Falsches und ich habe es auch nicht nur aus innerem Zwang oder dem moralischen Gebot der „christlichen Nächstenliebe“ getan. Trotzdem musste ich eingestehen bzw. überhaupt erst einmal sehen, dass dahinter ein starkes Bedürfnis war — eben das Bedürfnis nach Angenommensein und Geliebtwerden durch das Helfen. Außenstehende erkennen dies nicht in mir. Aber genau das ist ja der Zwiespalt, den viele Menschen in einer solchen Situation erleben. Man „weiß“ ja selbst um die psychologischen Fallstricke. Und es hilft auch nichts, wenn der Glaube innere Kraft und Sinngebung beschert. Da war trotzdem ganz viel in meiner caritativen Arbeit, was mich von mir selbst und meinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen weggebracht hat.

Die Kreativität, besonders das Schreiben, kann dann eine „Tür“ heraus sein. Doch meine Erfahrung ist eher, dass diese Energie erst wieder fließen kann, wenn die Selbsterkenntnis und das erhöhte Bewusstsein eingetreten sind und sich das Handeln verändert. Damit ändert sich auch sofort die persönliche und emotionale Situation, sowie das Umfeld. Und das bringt schließlich eine Befreiung, die das Schreiben zulässt. Ich glaube daher nicht, dass die Manie dauerhaft die Kreativität „sichert“. Das Schreiben „im Schmerz“ kann wunderbare Werke zutage fördern. Das Verarbeiten des Schmerzes und das Heilen kann schließlich eine ganz neue Ebene der Kreativität bewirken und damit auch ungeahnte Kräfte freisetzen, die dauerhaftes und gesundes kreatives Schaffen ermöglichen. Dafür muss der Kreative in seinen Gefühlen bleiben, d.h. kontinuierlich ohne Selbstverlust spüren können, und auch in der Lage sein, sich dauerhaft die Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihn „gesund“ fühlen lassen.

3. Selbstbetrug

Miller 97

Zu diesem Zulassen der Gefühle habe ich oben bereits geschrieben. Was zusätzlich daran so wichtig ist, ist die Fähigkeit, diese Gefühle überhaupt wieder wahr zu nehmen, zu spüren. Das klingt leichter als es ist. Unser Kopf erlaubt es uns, über so viele Jahrzehnte unseren erwachsenen und professionellen Habitus einzuüben, der uns nach außen keine Gefühle zeigen lässt. Und nach innen bzw. von innen spüren wir sie dann irgendwann gar nicht mehr. Dieser „Selbstbetrug“ kostet schließlich so viel Energie, dass wir gar nicht merken, an welchen anderen Ecken unseres Seins diese Energie fehlt. Und schließlich macht uns dieser Kampf krank — psychisch und körperlich.

Ich glaube durchaus, dass die gesellschaftlichen und moralischen Anforderungen, die Miller immer wieder als Grund für diese unterdrückten wahren Gefühle nennt, eine Rolle spielen. Ich würde aber nicht sagen, dass diese so maßgeblich sind, wie sie es oft darstellt. Auch stimme ich nicht generell damit überein, dass die wahre Vergebung eine untergeordnete Rolle spielt. Ich denke, das Verständnis aller Seiten lässt einen die Schuldfrage anders betrachten. Man selbst ist nicht schuld an dem Mangel an Liebe und Verständnis, den man erlitten hat. Und man darf und muss darüber trauern. Damit geht auch immer Wut einher. Doch in der „Nicht-Liebe“, die daraus gegenüber Eltern oder sonstigen Menschen entsteht, stecken zu bleiben, kann für mich auch nicht der Weg sein. Wie Miller an anderer Stelle im Buch sagt, ist jede Situation unterschiedlich und jede/r darf seinen/ihren eigenen Weg finden, um die innere Lösung von den Leiden der Vergangenheit zu vollziehen. Dazu gehört für mich auch, Liebe und Hass nicht holzschnittartig gegeneinander aufzuwiegen.

Reflexionsfragen

1) Kannst Du verstehen, dass Schreiben zumindest ein Stück weit befreit? Wenn nicht, welche (kreative) Tätigkeit hilft Dir, Dich frei zu fühlen?

2) Hat Dir Dein Körper schon einmal dabei geholfen, eine seelische „Krankheit“ zu erspüren? Glaubst Du an den Zusammenhang zwischen Körper und Seele?

3) Ertappst Du Dich manchmal dabei, dass Du krampfhaft versuchst, andere zu mögen und zu verstehen, obwohl Dir Dein Herz etwas anderes sagt? Möchtest Du das ändern?

--

--