# 522: BOOK OF THE WEEK — “Evas Erwachen.”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Offensichtlich geht meine Reise weiter durch Alice Millers Bücher weiter. Dies hier ist Nr. 2 und das nächste habe ich bereits begonnen. Ich weiß nicht, wie ich Alice Miller zuvor noch nicht im Detail studieren konnte. Aber wahrscheinlich war es einfach noch nicht dran auf meiner Lebensreise. Wahrscheinlich waren ihre Themen einfach noch nicht dran oder sie sind es jetzt wieder, nur eben in ihrer Form. Letztlich ist es wie immer im Leben völlig egal, wie es genau gekommen ist. Auf jeden Fall begleiten mich ihre Werke nun fast täglich. Und das ist nicht schwer, denn die Texte fließen dahin. Genauso wie sie geschrieben wurden, lassen sie sich lesen.
Auch bei diesem Buch hätte ich über fast jede Seite etwas schreiben können. Das geht hier nicht, dann wäre es ein weiteres Buch. Überhaupt ist es spannend zu sehen, wie alle Bücher von Miller ineinander verwoben sind, gleichsam aber eigene Themen beschreiben. Immer geht es natürlich um Traumatisierung in frühester Kindheit und die Folgen für unser späteres Leben. Wenn man dieses Leben nach langer Beschäftigung mit sich selbst einmal in der Tiefe zu verstehen beginnt oder damit schon recht weit ist, dann gibt es kaum noch etwas an Erkenntnissen, vor dem man zurückschreckt. Im Gegenteil: Man wünscht sich diese Erkenntnisse, da es lange dauert, da überhaupt heran zu kommen. Und mit Miller stimme ich überein, dass jede Heilung nur über emotionales (Wieder-)Erleben gelingt — mag es auch noch so „riskant“ sein, sich dahin zu begeben.
Einige von uns hören diesen inneren Auftrag,
woher er auch immer kommen möge.
Er führt auch immer über den Weg des wissen Wollens…
- Rolle spielen
Hier geht es um einen „Arzt“, der gar kein Arzt war, dazu aber durchaus begabt gewesen wäre. Stattdessen endete er in einer Schleife aus Selbstbetrug und wurde zum Mörder. Natürlich ist das nicht „die Regel“. Aber es passiert wenn Menschen nicht wissen, wer sie wirklich sind, weil sie es niemals werden durften in ihrer Kindheit. Nun mag jemand fragen: „Wer weiß schon, wer man wirklich ist? Ich habe gar keine Zeit für so etwas…“ Ja, manche von uns verschwenden keine Minute an gewisse Fragen an sich selbst. Das kann zwei Gründe haben: 1) Wir haben kein Problem mit unserem Selbst, mit unserer Identität. Folglich ergibt sich daraus kein Schmerz, den es zu lindern gäbe durch Selbsterkenntnis und Heilung. 2) Wir haben diesen Schmerz durchaus, aber wir entscheiden uns, ihn einfach so zu lassen, wie er ist. Wir wollen gar nicht mehr…
Wer daran glaubt, dass alles einen Sinn hat — dass jeder von uns einen Beitrag auf dieser Welt leistet — der wird am Ende des Prozesses dankbar sein über die Tatsache, dass er/sie nicht wusste, wer er/sie wirklich war oder ist. Der Weg, der Stück für Stück zum Sein führt, ist eine wunderbare Reise. Und sie endet nicht damit, dass wir alle zu Gurus oder Therapeuten werden. Von „außen“ betrachtet lebt ein bewusster Mensch vielleicht ein Leben wie jeder Unbewusste, wobei Bewusstsein die Fähigkeit meint, auf das eigene Leben aus einer dritten Perspektive zu schauen. Der Unterschied ist jedoch spürbar. Er äußert sich schlichtweg darin, dass ein bewusster Mensch, der „sich gefunden hat“, so gut wie unberührbar von den Psychomustern der anderen ist. Es muss nicht heißen, dass er selbst gar keine „kranken“ Seiten mehr in sich hat (z.B. Süchte, Depression). Aber all das ist auf einem Minimum, da er/sie die Fähigkeit hat, immer den Grund hinter den Mustern zu erspüren. Und der ist einfach:
Mangelnde Liebeserfahrung und daraus resultierender Mangel an Selbstliebe.
Das klingt wieder wie aus dem Poesiealbum oder von der Kanzel runtergepredigt. Doch es ist die Wahrheit. Ich hätte selbst nie gedacht, dass ich einmal die Liebe zum Dreh- und Angelpunkt meines Schreibens und Handelns machen würde. Doch es ist so. Und der Grund ist ganz einfach: Wenn ich durch die Straßen der Stadt laufe und die Obdachlosen sehe. Wenn ich im Fernsehen Berichte über Fentanyl-Abhängige in den Straßen Philadelphias sehe. Wenn ich die lieblosen Paare neben mir am Flughafen oder im Zug sehe, die sich nichts anderes zu geben scheinen als Abwertung und Kälte — wie soll man dem Thema Liebe und Heilung dann entgehen? Wer hinschaut, und das tun bewusste und begabte Menschen in der Regel ohne nachzudenken und ohne es zu „wollen“, der erkennt all das Leid, das durch lieblose und teils gewaltbeherrschte Kindheiten entstanden ist.
Es geht nicht darum, die Welt zu retten.
Es geht nicht darum, Moralapostel zu spielen.
Es geht einfach nur darum,
sich, Gott und die Welt,
ein bisschen mehr zu fühlen…
2. Schützende Botschaft Jesu
Über diesen Satz zur „schützenden Botschaft“ Jesu habe ich innehalten müssen. Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Jahren fuchsteufelswild wurde, als jemand sagte, genauer gesagt ein Theologe in einer Lehrveranstaltung, dass es geradezu ein „Verbrechen“ sei, Kindern die Bibel vor zu enthalten und sie nicht „christlich“ zu erziehen. Irgendwie finde ich das immer noch, auch wenn ich mit Miller übereinstimme. Das ist kein Widerspruch. Aber auch sie sieht die Schattenseiten des Christentums und die sehe ich auch. Was vermeintlich „christlich“ ist, ist oft einfach nur soziale Konvention und Spießertum. Es ist genau das, was Kindern eben keine Liebe gibt — Zucht und Ordnung im Namen der Moral.
Trotzdem weiß ich aus meinem Lebensweg, dass es Leben retten kann, wenn man weiß, da ist wer oder etwas, der oder das einen liebt. Menschen, die ohne Schmerz und in gesunden Strukturen mit gesunder Liebe aufgewachsen sind, können sich das vielleicht nicht vorstellen. Aber auch sie haben vielleicht im Laufe ihres erwachsenen Lebens gelernt, dass es lebensrettend sein kann, die „Botschaft Jesu“ im inneren Ohr und im Herzen zu tragen. In gewisser Weise können sie dadurch zu „wissenden Zeugen“ für andere werden. Gemeint sind hiermit jene kompetenten Begleiter/innen, denen Miller eine große Bedeutung zumisst, wenn es darum geht, Menschen aus ihrem Schmerz in die Heilung zu begleiten.
Gerade in den letzten Tagen ist mir erstaunlich bewusst geworden, welche Rolle auch „wissende Zeugen“ bei der Auslegung der Bibel haben. Und es macht mich demütig, dass ich noch lange nicht da bin, wo ich „alles verstanden“ habe. Darum geht es auch gar nicht. Ich kann nur sagen, dass ich vor 10 oder 20 Jahren nicht in der Lage gewesen wäre, die tiefe Bedeutung der einzelnen Geschichten zu erfassen, zu fühlen und so weiter zu tragen, dass sie verstanden werden kann. Ich sage nicht, dass ich das heute wirklich „kann“. Aber immerhin öffnen sich mir jetzt einfach Welten durch die Tatsache, dass mir die Geschichten im Kontext meiner eigenen tieferen Lebenserkenntnisse einfallen.
Dafür bin ich wahnsinnig dankbar.
Und ich werde alles tun,
um diese Weisheit zu teilen mit jenen,
die sie hören wollen
und in die Tat umsetzen.
3. Einheit
Miller beginnt ihr Buch mit Gedanken zu Genesis und dem Baum der Erkenntnis. Überhaupt geht sie kritisch mit der Bibel um, aber immer wieder finden sich Bezüge zu ihr (z.B. auch Moses als ungeliebtes Kind). Ihr Grundgedanke ist die mangelnde Logik hinter der Apfel-Geschichte. Wie kann Gott nicht wollen, dass der Mensch, insbesondere die Frau (Eva), vom Baum der Erkenntnis isst? Wie kann man nicht wissen wollen? Darauf bezieht sie sich, wenn sie hier auf einer der letzten Seiten schreibt, dass es auch Wissen braucht, um den eigenen Gefühlen und schließlich der Selbstliebe auf die Spur zu kommen.
Für mich persönlich ist dies ein schönes Bild und ich bin froh, dass hier eine Balance eingekehrt ist. Ich bin sehr lange zwischen Extremen gependelt — dem extremen Fühlen und spirituellen Erfahren und dem extrem wissenschaftlichen Lernen und Denken. Miller geht einen wunderbaren Weg. Sie zeigt mit ihren Büchern, dass wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psychologie und Neurowissenschaft Hand in Hand mit persönlichen Erfahrungen aus der Praxis und Selbsterfahrung gehen können und müssen. Hinter alledem steckt letztlich die Neugier und der „Trieb“, dass es mehr zu wissen gibt über sich und die eigene psychische Gesundheit, als einem bislang bewusst ist.
Schließlich führt aber all das, zumindest für mich, zu der Erkenntnis, dass unser Kopf zwar Mittel zum Zweck ist, aber wahre Liebe und Selbstverständnis — die gelebte Einheit mit sich selbst — geschieht über das Fühlen. Damit ist gemeint, dass der Mensch zu jedem beliebigen Moment in der Lage ist, sich und seine Bedürfnisse zu spüren. Es geht gar nicht darum, diese zu verbalisieren. Es reicht, wenn man ihnen folgen kann, nach ihnen leben kann, in jedem Moment und in Fülle. Und das bedeutet dann auch, dass man diesem Gespür 100% vertrauen kann. Dass man gelernt hat, dass Gefühle nicht falsch oder richtig sein können. Sie sind einfach da und bei Menschen, die sehr viel fühlen und sensorisch „sehen“ sind sie ein wahnsinniger Schatz, den es gilt, in die Welt zu tragen, ohne sich ständig zu hinterfragen.
Das macht Selbstbewusstsein aus,
und Selbstwert,
und schließlich die Liebe.
Reflexionsfragen
1) Gab es Zeiten in Deinem Leben, in denen Du nicht wirklich wusstest, wer Du bist? Was hat Dir geholfen, es herauszufinden?
2) Findest Du, jedes Kind sollte von der Botschaft Jesu erfahren — egal, ob es „glaubt“ oder nicht? Was spricht dafür/dagegen aus Deiner Sicht?
3) Wie verstehst Du die Genesis-Geschichte in der Bibel? Kann Gott wirklich wollen, dass der Mensch „blind“ bleibt und nicht vom Baum der Erkenntnis isst? Welche Rolle spielt in Deinem Leben der Drang nach Wissen und die Selbsterkenntnis?