# 512: BOOK OF THE WEEK — „Engel im Hafen?“

Silke Schmidt
6 min readJan 14, 2024

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Engelbrecht, Lars, und Jan Bintakies (2015): Engel im Hafen? Über die Arbeit der Seemannsmission.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Tja, Engel im Hafen? Im Hafen denkt man wahrscheinlich erst an Schiffe und Container — aber Engel? Und warum sollten die sich gerade in den Hafen verirren? Wie so oft bei Begriffen, die wir von Kindheit an kennen, verbirgt sich dahinter oft etwas ganz anderes als gedacht. Das ist gerade bei Begriffen und Orten so, die scheinbar so „simpel“ und einsehbar sind. Man braucht zunächst keine besondere Zutrittserlaubnis, um einem Hafen nahe zu kommen. Es ist dann aber tatsächlich noch einmal eine andere Situation, wenn man sich wirklich „hinein“ begibt — jenseits aller Sicherheitsschranken. Das ist beim Flughafen so und, wie ich bei der Seemannsmission in Hamburg lernen durfte, auch beim Schiffshafen.

Dieses Buch war ein Geschenk des Duckdalben Seemannsclubs in zweierlei Hinsicht. Einerseits wurde mir das Buch tatsächlich geschenkt ohne, dass ich dafür bezahlen musste. Darüber hinaus ist ein solches Buch für mich immer eine besondere Freude. Natürlich habe auch ich als Kind oder eher Teenager Comics gelesen. Ich kann nicht mehr genau sagen, ob sie mir die Freude am Lesen vermittelt haben. Vielleicht waren sie ein Baustein dabei. Jedenfalls haben diese bebilderten und mit einfachen Texten gestalteten Bücher immer einen besonderen Zauber. Auch und gerade als Schreibender lernt man so oder wird zumindest daran erinnert, dass man die Dinge auch einfach und gleichzeitig berührend aussprechen kann.

Berührend war auch meine Zeit im Duckdalben, über die ich vorher schon mal geschrieben habe (Geschichten aus der Schatztruhe). Die Seeleute und auch deren Engel aus der Nähe kennen lernen zu dürfen, war ein Privileg. Und wenn man auch nur ein bisschen in die Welt der heutigen Seefahrt eintaucht, dann merkt man ganz schnell, dass es diese Engel auch braucht. Natürlich braucht man Engel überall und jeder von uns würde wohl nicht „nein“ sagen zum persönlichen Engel. Manche von uns haben auch einen — einen Schutzengel oder einen sonstigen Engel, dessen Gegenwart wir meist in besonderen Momenten spüren. Die Seeleute brauchen die Engel ganz besonders, da sie meist da sind, wo eben ihre „Heimatengel“ nicht um sie sind — ganz weit weg von daheim und „allein“.

  1. Engel

Im Buch wird die Arbeit der Seemannsmission und auch die Situation der Seeleute von einem kleinen Jungen namens Nick erklärt. Und Nick stellt dem/der Leser/in ziemlich am Anfang die Engel vor. Nein, sie haben keine Flügel und schweben auch nicht auf Wolken. In der Realität der Seemannsmission tragen sie meist leuchtend gelbe Jacken, Helm und Sicherheitsschuhe. Sie kommen da hin, wo keiner von „uns“ normalerweise hin kommt — bis aufs Schiff. Das ist das schwimmende zu Hause der Menschen, die dafür Sorgen, dass 90% der Waren, die wir täglich konsumieren, über See zu uns gelangen.

Diesen Begriff der Engel in einem Kinderbuch zu finden überrascht nicht. Klar, wie assoziieren mit der kindlichen Bilderwelt oft fabelhafte Gestalten, die es so in „Wahrheit“ nicht gibt. Dazu gehören neben Engeln auch Feen und Schlümpfe, aber auch Hexen und Monster. Engel aber haben, so würde ich meinen, aufgrund unserer christlichen Prägung und damit auch dem Hintergrund der Seemannsmission, eine besondere Bedeutung. Wie oft benutzen wir oft in unserer Alltagssprache das Wort des Engels, um aus zu drücken, dass da ein Mensch ganz Besonderes tut? Oder aber wir suggerieren, dass da jemand „Glück“ gehabt hat, wie es nur von einem Engel beschert worden sein kann.

Ich selbst empfinde diesen Satz „du bist ein Engel“ als etwas sehr Besonderes und Wertschätzendes, auch wenn manche vielleicht als verniedlichend sehen. Damit drückt jemand aus, dass das, was ihm/ihr durch uns gegeben wird, nichts Alltägliches im Leben ist. Und es ist eine große Freude für uns Menschen, bereits zu Lebzeiten und auf Erden eine solche Aufgabe wahrnehmen zu dürfen. Und es braucht eben Institutionen wie die Seemannsmission aber auch die unzähligen anderen gemeinnützigen Organisationen und seelsorgerischen Einrichtungen, um Menschen die Möglichkeit zu geben als Engel zu wirken. Und es sind auch diese Einrichtungen, die Menschen das Vertrauen schenken, dass dort ein Ort ist, wo „Menschen wie Du und ich“ als Engel wirken.

Ob christlich oder nicht,

ich hoffe sehr,

dass es solche Einrichtungen immer geben wird.

Wir brauchen sie,

genauso wie wir in gewissen Momenten des Lebens ganz besonders Engel brauchen.

2. Philippinen

Der stereotype Seemann aus den Filmen und vielleicht alten Abenteuerromanen hat einen Rauschebart, eine Pfeife im Mund und eine Seemannsmütze auf. Vielleicht hat er auch noch einen dicken Bauch und ist eher älter. Keines dieser Merkmale hat mit der Realität der heutigen Seefahrt zu tun. Die Besatzungsmitglieder, die man auf den Schiffen trifft und damit auch im Seemannsclub, sind meist unglaublich jung (zw. 20 und 30) und von den Philippinen. Ab und an trifft man natürlich auch Ausnahmen, aber da reden vor von max. 10%. Und diese Tatsache allein reicht, um unser Bild der Seefahrt über den Haufen zu werfen.

Mich hat es wahnsinnig beeindruckt, wie diese zumeist jungen Männer mit ihrer Situation umgehen. Und auch das wird später im Buch thematisiert. Es gibt da keine schwarz-weiß Darstellung. Denn wie das Leben selbst, ist auch das Buch gut darin, die Schattierungen und die vielen Perspektiven zu zeichnen. Es ist unbestritten, dass “die Philippinos” für die gleiche Arbeit wesentlich weniger verdienen als beispielsweise deutsche Seeleute. Richtig und wichtig ist vor allem aber, dass sie wesentlich mehr verdienen als in ihren Heimatländern. Und genau deshalb nehmen sie die langen Abwesenheiten auf See ja „in Kauf“: Sie ernähren mit dem Verdienten zu Hause ihre Familien. Und schon sehr junge Seeleute haben oft viele Münder zu Hause zu „stopfen“.

Was ich von den anderen Haupt- und Ehrenamtlichen gehört habe und sich gleichsam mit meiner Erfahrung deckt, ist die positive Ausstrahlung, die sie haben. Das ist eine doofe Floskel geworden, „positive Ausstrahlung“, aber sie trifft eben das, was wir manchmal anders nicht in Worte fassen können. Sie kommen nicht leidend oder hoffnungslos daher, auch wenn sie sich in schwierigen Situationen befinden. Und das scheint, soweit ich sehe, durchaus mit ihrer Kultur und vielleicht auch mit ihrem Glauben zu tun zu haben. In jedem Fall hat es die Arbeit noch zusätzlich bereichert, auf diesem Wege auch mehr über die Menschen zu erfahren, die leider häufig nur als Label „Philippinos“ beim Thema moderne Sklavenarbeit in den Nachrichten auftauchen.

Was wichtig ist zu unterstreichen: Auch dieses Thema wird im Buch, wie in jedem „guten“ Kinderbuch so einfach und klar dargestellt, dass keiner mehr Ausreden haben kann, um auch noch so ein „hartes“ Thema mit dem Label „zu kompliziert“ zu verschweigen oder gewissen Zielgruppen vor zu enthalten.

Kinder spüren Ausreden und lassen sie nicht gelten.

Ich auch nicht.

3. „My friend“

Diese Begrüßung, „hello, my friend,“ hat es in sich. Sie ist wirklich genau die, die die Engel der Seemannsmission auch verwenden. In den ersten Tagen bin ich darüber etwas gestolpert. Es kann ja auch schnell als „paternalistisch“ gelten, jemanden vermeintlich von oben herab als „my friend“ zu benennen. Aber das ist es nicht. So ist es nicht gemeint. So kommt es auch nicht rüber. Es ist ein bisschen so wie unter Gläubigen oft das Wort „Geschwister“ benutzt wird. Es ist anfangs noch befremdlich, aber dann ist es auch wieder schön irgendwie. Man fühlt sich angenommen und „zu Hause“, wohlwissend, dass man eben an einem anderen Ort weit weg von zu Hause ist.

Ich habe diesen Satz dann bald auch so gesagt und es hat mir Freude gemacht, die strahlenden Männer dann zu sehen. Vielleicht sollten wir solche vermeintlichen „Floskeln“ oder eher überholten Anreden wie „meine Freunde“ öfter und mutiger sagen, um Verbundenheit aus zu drücken. Vielleicht passt es aber auch einfach nicht zu unserer Kultur und Sprache. Wie dem auch sei. Die Engel der Seemannsmission sind wahre Freunde der Seeleute. Und sie geben ihnen das Gefühl, die Würde zu haben, die sie vielleicht in so mancher harten Minute auf See vermissen. Und das genau ist das, was uns Engel in Stunden des Verlorenseins vermitteln: Wir sind nicht allein und wir sind wertvoll. So wertvoll, dass Engel uns beschützen… ganz ohne Fragezeichen!

Reflexionsfragen

1) Wann hast Du zuletzt ein Kinderbuch gelesen? Welches war es und was hat es Dich gelehrt?

2) Würdest Du jemals Deine Familie oder nahestehende Menschen für einen Großteil des Jahres verlassen, um Geld zu verdienen? Warum/nicht? Was wäre die Alternative?

3) Wann hast Du zuletzt die Anrede „mein Freund/my friend“ gehört? Welche Reaktion hast Du darauf?

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