# 505: BOOK OF THE WEEK — “Geschichten aus der Schatzkiste des DUCKDALBENs”

Silke Schmidt
9 min readDec 12, 2023

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Thomamüller, Bärbel (2016). Geschichten aus der Schatzkiste des Duckdalbens.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Diesmal ist es kein “Buch” im eigentlichen Sinne, sondern eine Schatzkiste an Geschichten, die mich gefunden hat. Immerhin bin ich diesmal näher am Sonntag dran als in den vergangenen Wochen, auch wenn ich es wieder nicht pünktlich geschafft habe. Aber ich habe Covid und damit habe ich vor allem eines: Zeit. Diese Zeit würde ich gern unter Seeleuten auf Schiffen und im Duckdalben-Seemannsclub verbringen. Doch das Leben wollte es jetzt anders und da sitze ich nun — kann lesen und schreiben, wenn ich nicht gerade schlafe oder friere oder beides.

Natürlich habe ich bei all den Prospekten und Magazinen im Duckdalben auch diese Schatzkiste eingesammelt und verschlungen. Die Sammlung der Geschichten rankt sich um die vielen „Schätze“, die im Duckdalben hängen und liegen und stehen. Es sind Mitbringsel, Geschenke von Seeleuten als Dank und Erinnerung an den Club. Man kann sich vorstellen, dass sich im Laufe von über 30 Jahren eine Menge an schönen Dingen ansammeln, die alle eine eigene Geschichte haben. Oftmals endet diese Geschichte schön, manchmal tragisch. In jedem Fall ist sie immer mit dem verbunden, wofür Duckdalben steht: Die Würde der Seemänner aus christlicher Überzeugung zu wahren und ihnen in jeder möglichen Form Unterstützung zukommen zu lassen — sei es materieller oder seelischer Natur.

Als ehrenamtliche Flughafenseelsorgerin hat mich diese Schatzkiste natürlich auch auf Ideen gebracht, die man auch in Häfen ohne Schiffe aber mit Flugzeugen umsetzen könnte. Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass Clubs mit Tresen und Leckereien Menschen zusammen bringen, ihnen eine Heimat abseits der Heimat bieten, ihnen Wärme und Nahrung schenken, und vor allen Dingen andere Menschen und Abwechslung. Wenn ich eines gelernt habe bei all dem Psycho-Gelerne, das ich seit Jahren betreibe, dann das: Abwechslung bedeutet nicht einfach nur „Ausblenden“. Es bedeutet, wieder andere Dinge als das eigene Problem zu sehen. Und damit wird das Problem automatisch etwas kleiner und erträglicher. Es ist damit nicht weg. Aber „nur“ einen Menschen zu haben, bei dem man stundenlang über das Problem redet, bringt allein und auf Dauer auch wenig.

Klar ist, dass dieser Club ein wahrer Segen für alle Beteiligten ist. Damit meine ich nicht nur die Seeleute, ich meine auch alle anderen, die in und um den Club herum wirken. Sie alle bringen auch ihre Geschichten als „Schätze“ mit und können den Duckdalben nur mit dieser wunderbaren menschlichen Vielfalt bereichern und weiter entwickeln. Das ist sicher nicht immer einfach und ohne Konflikte, aber das genau ist menschlich. Es ist eine solche Mischung und die damit verbundene Offenheit und das Vertrauen, die einen solchen Ort so besonders machen. Und genau das ist mein Verständnis von „Christentum“. Ich habe das ja schon oft in Bezug auf Seelsorge beschrieben. Hier sei es nochmals erwähnt: Das Evangelium zu leben, ohne ständig über Jesus zu reden, hilft den Menschen wirklich… Das soll nicht heißen, dass über Jesus reden gar nichts bringt. Jeder darf einfach dem folgen, was ihm/ihr am meisten liegt. Die “Macher” sollen nach Herzenslust machen… Die “Redner” sollen reden. Und manche machen gern beides und noch vieles mehr.

Der Ehrenamtlichen, Bärbel Thomamüller, liegt es offensichtlich, den Geschichten hinter den Dingen, im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund zu gehen. Sie hat sie recherchiert und für die Schatztruhe aufgeschrieben. Es ist ein Segen, solche Menschen an Bord eines Teams zu haben, das ohne Ehrenamtliche gar nicht funktionieren würde. Was man dazu gesellschaftlich sagen könnte, dass nämlich vieles in diesem Land ohne Ehrenamtliche überhaupt nicht funktionieren würde, ist ein anderes Thema. Wo auch immer man Ehrenamtliche findet, spürt man aber sofort, dass da Menschen mit ganzem Herzen dabei sind, sonst wären sie schlichtweg nicht da. Und das Schöne ist auch, dass es für die Seeleute in diesem Fall gar keinen Unterschied macht, ob da jemand für die Arbeit bezahlt wird oder eben nicht. Er oder sie braucht Hilfe und bekommt sie. Fertig.

“Hummel, Hummel — Mors, Mors.”

  1. Seefahrtbuch
Thomamüller 26

Diese „spannende Lektüre“ hat mir nochmals bewusst gemacht, wie viel Kraft das Schreiben hat. Natürlich schreibe ich hier immer wieder darüber. Aber immer wieder ist es eben auch augenöffnend. Diese Geschichte des Seemanns Theodor Herrmann Thode kennen wir nur aufgrund seiner Aufzeichnungen, die Thomamüller in der Sammlung des Duckdalben gefunden und entstaubt hat. Natürlich impliziert das auch, dass wir die meisten Geschichten spannender Menschen nicht wissen, da wir keine Aufzeichnungen von ihnen haben. Aber was wäre die Welt ohne die schriftlichen Zeugnisse der Vergangenheit? Wir wüssten nichts. Wir würden nur aufgrund von Ausgrabungen und gefundener Artefakte auf die Lebensumstände schließen. Das bleibt Spekulation. Und wir hätten keinen Einblick in ihr Innenleben.

Natürlich sind Seefahrtbücher keine Memoiren, die das emotionale Leben der Schreibenden wiedergeben. Aber auch „Bewertungen“ und „Zeugniseinträge“ anderer sagen eben etwas aus. Und ganz abseits der Selbstbeschreibungen und -einschätzungen sagt eben auch allein der Verlauf des Lebens viel über den Menschen aus. Wie viele Fahrten jemand wohin getätigt hat, sagt etwas über ihn aus. Ob er diese nun geplant oder als willkommene Chance mitgenommen, steht auf einem anderen Blatt. Tatsache ist, irgendwann hat er/sie sich für den Schritt entschieden. Und daraus kann man etwas ablesen.

Diese Tatsache mache ich mir bei all meinen Grübeleien über nächste Schritte sehr wenig bewusst. Mir ist viel zu wenig klar, dass man an meinen Lebensstationen sehr viel, fast alles, über mich „lesen“ kann, ohne, dass ich auch nur ein Wort dazu sage oder aus meinem Innenleben teile. Was sagt es über mich, dass ich jetzt in der Seemannsmission helfe? Was sagt es über mich, dass ich mein nächstes Abenteuer noch nicht kenne? Was sagen die vielen bereits erlebten Abenteuer über mich aus? Ganz einfach, dass ich ohne Abenteuer nicht leben will. Das ist ganz banal. Aber man braucht lange, um das erst mal zu erkennen…

Was es nun für die Nachwelt bedeutet, dass seit 2013 solche Seefahrtbücher nicht mehr geführt werden müssen, weiß ich nicht. Nun ist alles digital und kann getracked werden. Trotzdem gibt es Menschen, zumeist die Älteren, die weiterhin ihre Gewohnheit pflegen, Ereignisse und Erfahrungen zu dokumentieren. Welchen Wert das hat, auch für die ganz praktische Bearbeitung von Fällen, haben mir bereits die ersten Tage hier in der Seemannsmission gezeigt. Viele der Geschichten, die mir erzählt wurden, konnten mir nur so detailliert wiedergegeben werden, weil die Akteure sie niedergeschrieben hatten. Und daraus lernt man viele Details, die wichtig sind, um schnell in die maritime Welt und Wirtschaft einzusteigen. Wie das die späteren Generationen mit dem Wissen aus dem Netz machen, bleibt offen…

2. Wegzeichen der Religionen

Thomamüller 56

Wenn man von sieben Religionen hört, da mag mancher schon schlucken, der vielleicht allein die drei Buchreligionen (Christentum, Judentum, Islam) als wirkliche „Religion“ bezeichnet. Tatsächlich ist die Welt ja viel bunter und wird es zunehmend. Doch wie auch hier in dieser Geschichte schön beschrieben, war die Welt an manchen Orten schon immer weltoffener und integrativer als das so mancher denkt, der heute Durchrbrüche beim Austausch der Kulturen feiert. Es ist schade, dass es nicht überall ganz NORMAL ist, das die sieben plus Glaubensrichtungen der Welt (man vergesse nicht so manche zusätzlich spirituelle Tradition von Naturvölkern) gleichwertig miteinander in Harmonie miteinander leben und lieben und eben auch segeln.

Wir alle sind dafür verantwortlich, dass das Realität wird; egal, ob wir im Hafen arbeiten und wohnen, im sozialen Brennpunkt oder im Nobelviertel an der Elbchaussee. Wenn wir uns täglich darüber bewusst werden, dass keiner von uns Gott spielen sollte und damit die „absolute Wahrheit“ in sich trägt, dann sind wir beim Thema Demut schon einen Schritt weiter. Und wenn wir darüber hinaus alle den Kopf einschalten und hinterfragen, was uns Pastor, Imam oder sonstwer gerade erzählt, egal, wie schön es klingen mag; wenn wir einfach nach dem gehen, was unser Herz uns sagt: dass nämlich jeder Mensch in ein Land hineingeboren wird, für das er nichts kann, und dass er/sie genau das gleiche Recht auf Unversehrtheit und Seelenfrieden hat, wie wir, dann sind wir bei den sieben schönen Wegweisern angekommen, die alle zum Raum der Stille im Duckdalben führen und für Frieden und spirituelle Einkehr stehen.

3. Kalle

Thomamüller 68

Hier geht es um Kalle, einen der ehemaligen Club-Kater. Auch heute gibt es wieder Katzen im Club — sie heißen Carlo und Lotti. Was hier über Kalle geschrieben steht, könnte auch Carlo oder Lotti passieren. Auch sie sind einigermaßen wanderlustig und absolut ohne Berührungsangst wenn es um die Seeleute geht oder schicke Weihnachtsbäume, an die man sich hängen kann. Vor einigen Tagen wollte eine Gruppe von Seeleuten in die Stadt zum Einkaufen. Wir boten ihnen die Fahrt an. Zwei weitere von ihnen hatten mitkommen wollen, aber wie der eine Kollege erklärte: „Sie wollen noch hier bleiben wegen der Katzen.“ In der Tat hatte ich sofort nach dem Eintreten in den Club bemerkt, dass zwei der Seeleute sofort auf die Katzen zugingen, sie hochnahmen, schmusten, ins Herz schlossen.

Natürlich ist ein Schiff, dazu noch ein Frachter, ein denkbar schlechtes zu Hause für ein Tier, schon gar für eine Katze. Vielleicht täusche ich mich und es gibt große Schiffe mit Haustieren an Bord. Angesichts der strengen Regeln aber und des zunehmenden kommerziellen Drucks des maritimen Geschäfts, kann ich es mir nicht vorstellen. Was ich mir aber gut vorstellen kann, gerade weil ich eigene Tiere habe, ist, dass man Tiere über alles vermisst. Und das ist kulturverbindend. Denn Tierliebe ist menschlich, auch wenn nicht überall auf der Welt alle Tiere gleich geliebt werden. Jedenfalls war es total rührend zu sehen, wie sich die jungen Männer sofort in den Kater verliebten und ihn gar nicht mehr vom Arm lassen wollten.

Lotti oder Carlo macht Blödsinn im Warenlager

Dass Kalle nach seinem Ausflug auf See wieder im Duckdalben endete, hat sicher alle maßlos gefreut. Ich glaube, es gibt kaum etwas Schöneres, als etwas verloren Geglaubtes wieder im Arm halten zu können. Das ist wie ein Wunder. Wir Menschen haben unser Leben lang Angst, die wichtigsten Dinge und vor allen Dingen Menschen im Leben zu verlieren, auch wenn wir wissen, dass das Leben endlich ist und der Verlust ganz natürlich dazugehört. Wenn uns dann aber trotzdem dieses Geschenk zuteil wird, dass etwas Verlorenes zu uns zurück kommt, und zwar nachdem wir die Hoffnung aufgegeben hatten und auch alle Bemühungen und alles Kämpfen, es zurück zu bekommen, dann ist das überwältigend.

Oft wünschte ich mir tatsächlich, unsere Tiere könnten sprechen und uns die Geschichten erzählen, die sie ohne unsere Anwesenheit erlebt haben. Und im gleichen Moment weiß ich, dass ich mir das gar nicht wirklich wünsche. Denn dann wäre alles kaputt, was Tiere zu Tieren macht. Sie haben ihre eigene Sprache und sie haben auch ihr Eigenleben. Sie kommunizieren ja trotzdem ständig mit uns. Aber die Tiefe der Liebe zwischen Tier und Mensch macht eben aus meiner Sicht gerade aus, dass wir ohne menschliches Vokabular verbunden sind. Da funktioniert alles über Spüren und Tasten. Und das ist genau schön so, wie es ist. Und ich freue mich jedes Mal wahnsinnig darüber, wenn ich sehe, dass die Katzen den Club so bereichern und auch zum 1000. Mal auf der Theke stolzieren, wo sie nicht hingehören. Ihre Magie wirkt, ohne, dass jemand etwas sagen muss. Sie sind einfach nur da. Und genauso wirkt Seelsorge zu Land und zu Wasser: Da sind Menschen einfach nur für andere da.

Eingangsbereich des Clubs inmitten der Weihnachtsvorbereitungen 2023

Reflexionsfragen

1) Hast Du jemals in Deinem Leben Tagebuch geschrieben? Warum/nicht? Kannst Du der Idee generell etwas abgewinnen?

2) Wenn Du in einem fremden Land oder an einem internationalen Ort (Flughafen, Hafen) die Frage gestellt bekommst: „Was glaubst Du?“ Wie antwortest Du?

3) Wie stellst Du Dir Seeleute von heute vor? Wie alt sind sie? Wo kommen sie her? Was machen sie in ihrer Freizeit?

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