# 391: BOOK OF THE WEEK — “Streiten? Unbedingt!”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Eigentlich hatte ich heute ein Buch von Robert Seethaler lesen und besprechen wollen. „Eigentlich“ führt aber selten wohin. So war es auch heute. Denn gestern hatte ich noch einen Austausch mit einer Freundin, die bald nach zehn Jahren in den USA nach Deutschland zurückkehren möchte. Sie fragt sich gerade, wie der „reverse culture“ shock wohl werden würde; insbesondere zum Thema „Emotionalität“. Das war ein Thema, das von mir aufgegriffen worden war nach einem Meeting letzte Woche. Ihre Frage an mich war, wie ich trotzdem „mein Ding“ machen würde in Deutschland (womit sie Emotionalität inkludierte) — wie ich damit klar käme, dass hier die Menschen auf irgend geartete emotionale Aussagen oder Regungen schlichtweg mit Schweigen reagierten?
Meine Antwort war einfach:
Gar nicht!
Wenn ich es recht bedenke, dann komme ich immer weniger mit der deutschen Kultur klar. Ich glaube aber nicht, dass das neu ist. Ich glaube nur, ich bin lange Zeit vor dem Gedanken weggelaufen, dass es so sein könnte. „Weglaufen“ ist prinzipiell selten eine gute Idee. Aber ich hatte mich eben gezwungen, nicht ins Ausland weg zu laufen, nur weil ich mir einbildete, dass mich die deutsche Kultur kaputt macht. Nun glaube ich, es ist umgekehrt. Ein Weglaufen in eine Kultur, in der man sich mehr man selbst fühlt, in der man atmen und denken kann und natürlich SCHREIBEN kann, in der man fühlen und STREITEN kann — das ist besser als zwanghaft an dem Gedanken fest zu halten, dass derartige Gedanken doch nur Firlefanz seien; ein Weglaufen vor den wahren Gründen von Unmut und Depression.
Nun fragt man sich, was all das mit diesem wunderbaren Buch zu tun hat. Das ist ganz einfach, denn die oben beschriebenen Gedanken und der Austausch dazu haben mich heute an das Büchlein denken lassen, das mir Amazon vor ein paar Tagen (den Algorithmen sei Dank) als Kaufvorschlag gemacht hat. Natürlich wusste das System, dass ich schon Bücher von Friedman gekauft und gelesen hatte und natürlich kennt Amazon auch meine Persönlichkeit so gut, dass die IT davon ausgeht, Worte wie “Streit” und “Plädoyer” sprechen mich an. Doch darauf eingegangen bin ich eben zunächst nicht. Bis ich heute nicht anders konnte. Denn das Streiten und die Emotion gehören unweigerlich zusammen — meine ich. Und wie ich lesen konnte, meint das auch Friedman.
Schade ist nur, dass ich über dieses Buch mit dem Autor kaum streiten könnte. Lange habe ich kein Plädoyer mehr gelesen, in dem so viel Kluges auf so wenigen Seiten stand. Und es steht da nicht nur — es fließt. Ich mag den schnellen Rhythmus, die kurzen Sätze, die klare Sprache. Man hört die Stimme des Autors förmlich sprechen im Kopf, während man innerlich mit dem Kopf nickt. „Man“ ist natürlich Quatsch, denn ich rede hier von mir. Ich finde dieses Buch lesenswert und es war für den heutigen Bedarf meines Kopfes genau das, was ich zum Weiterdenken brauchte. Ja, es wäre schön gewesen, darin allerlei Aufregendes und Kontroverses zu finden, an dem ich mich hätte reiben, über das ich mich hätte aufregen können. Aber Streit um des Streites Willen ist dumm. Streit um des Lernens willen ist ein Muss, wie der Autor sehr schön herleitet.
Wie immer werde ich an dieser Stelle keine klassische Buchrezension oder Lobhudelei lostreten. Das liegt mir fern. Ich muss aber auch dazusagen, dass mich dieses Buch berührt hat, weil ich mir wünschen würde, dass wir mehr Wissenschaftler hätten, die solche Bücher nicht nur schreiben sondern auch lesen würden! Beides ist nicht selbstverständlich. Überhaupt ist es mit dem Verstehen in Deutschland aktuell nicht sonderlich gut bestellt wie mir und offensichtlich auch Friedman scheint. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Bildung auf dem Papier mehr zählt als Denkfähigkeit. Wir nehmen schweigend hin, dass Titel und Ämter mehr über einen Menschen sagen, als sein Handeln.
Ach ja, das mit dem Schweigen war wohl schon immer “unsere” Stärke.
„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“
Schade nur, dass Sprichwörter Kulturen noch heute treffender beschreiben können als die in Deutschland geheiligten „Experten”.
Wie Friedman durchweg deutlich macht, gibt es kein Patentrezept für das Streiten. Ich meine auch nicht, dass „Reden“ prinzipiell immer besser ist als „Schweigen“. Zum Schweigen gehört auch das Zuhören, das maßgeblich für einen zielführenden Dialog — überhaupt für den Austausch unter Menschen — ist. Doch nur mit Schweigen funktioniert eben auch das Streiten nicht. Da geht es darum, den Mund auf zu machen, Haltung zu zeigen, Position zu beziehen. Es geht darum, eben nicht weg zu schauen oder sich aus der Affäre zu ziehen. Es geht um all die Werte und Handlungen, die letztlich Demokratien ausmachen. Auch davon schreibt Friedman und auch wenn das Buch vor mehr als einem halben Jahr erschien, so ist es leider — auch mit den Beispielen zu Putin und Co. — aktueller denn je.
Ich schreibe diese Zeilen nun an einem Sonntag, an dem im Rhein-Main-Gebiet endlich mal wieder einige Tage die Sonne geschienen hat. Es ist wärmer, die Menschen gehen raus — mit Kind, Hund, und Freunden bevölkern sie die Gehwege. Abends, wenn ich dann mit dem Hund rausgehe, sehe ich die Fernseher drinnen flackern. Auf den Bildschirmen sehen wir den Krieg — einen Krieg, den wir irgendwie auch alle mit zu verantworten haben. Jeder trägt sein kleines Stückchen dazu bei, Demokratien in die Zukunft zu führen. Es ist egal, was genau wir machen. Aber jeder, der etwas macht, schaut in der Regel nicht nur zu — er schweigt nicht — sondern er handelt und kommuniziert mit Menschen. Man mag über Michel Friedman gelesen oder gedacht haben, was man will. Wenn es jemanden gibt, von dem man lernt, wie man das Streiten zum Lernen nutzen kann, dann gibt es kaum noch Gesichter in Deutschland, die das in ähnlicher Art und Sprache verkörpern.
- Kennenlernen
Was hat diese Passage mit dem Streiten zu tun? Ganz einfach — die Streitfähigkeit hat immer einen Ursprung. Der muss nicht schön oder schlecht, reich oder arm, gebildet oder ungebildet sein — es gibt aber immer einen Anstoß, der einen den Wert von etwas erkennen lässt — auch den Wert im Streiten. Natürlich spielen dabei die Eltern und die eigene Geschichte eine entscheidende Rolle. Und was mich an dieser und weiteren Kapitelanfängen im Buch so fasziniert, ist das kleine Wörtchen: „kennenlernte“. Das taucht noch in anderen persönlichen Passagen auf. Es scheint eine Nebensächlichkeit und doch bin ich darüber gestolpert. Und als ich da stolperte, fand ich das Wort sofort bemerkens- und bedenkenswert.
Es ist nicht so, dass wir unsere Eltern oder vorherige Generationen „kennen“, nur weil sie mal eben zufällig von Geburt an in unserem Leben sind. Nein, auch ich glaube, dass es oft einen Moment gibt, in dem wir diese für uns prägenden Menschen zum ersten Mal wirklich kennen lernen. Natürlich gibt es auch heute noch den Fall, dass Väter nach einem Krieg oder der Trennung auf einer Fluchtroute ihre Kinder tatsächlich erst im Jugendalter kennen lernen im Sinne von wiedersehen. Aber in anderen Fällen kann es sein, dass wir mit ihnen groß werden und doch erst ein bestimmtes Alter erreichen müssen, um sie wirklich und bewusst kennen zu lernen. Überhaupt ist dieses Wort bedeutsam, denn es beinhaltet das Verb „lernen“.
Ich will hier nicht zum Sprach-Klugscheißer werden. Das wäre absolut unangebracht, denn es würde diesem Buch nicht gerecht werden. Diese Passage verdeutlicht aber, warum der Titel Wort hält. Es geht hier um persönliche Bezüge zum Ursprung des Streitens. Und jenes Streiten, das man auch mit Debattieren im Deutschen bezeichnen könnte, das bildet wirklich ungemein — vielleicht mehr als jede andere neumodische Methode, die sich irgendein digital learning expert mit der neusten Online-Software ausgedacht hat. Nicht falsch verstehen, ich bin nicht altmodisch und gegen Innovation. Vielmehr ist es mir wichtig, dass inmitten all der Buzzwords und neuer Ansätze der Ursprung aller Lernmethoden nicht vergessen wird: der Sokratische Dialog und die Auseinandersetzung mit dem Gesprächspartner.
Wenn man das Glück hat, einen Vater zu haben, der einen zum Argumentieren, ja, zum Streiten, angeregt hat, dann ist das ein Geschenk. Natürlich vererben uns unsere Eltern nicht nur Geschenke. Doch wenn wir rückblickend darüber nachdenken, dann werden uns diese wahren Momente des Kennenlernens eben bewusst. Und meistens gehört dazu auch eine bestimmte Stimme, eine bestimmte Sprache, ja, eine bestimmte Kultur, welche sich einem nicht nur ins Gedächtnis einbrennt, sondern ins Herz. Und genau damit sind wir am Kern meines eingangs aufgeführten Argumentes angekommen: zum Streiten gehört Emotion. Das macht den Unterschied.
2. Emotionale Intelligenz
Ich hatte in den letzten Monaten eine ziemlich zermürbende berufliche Verbindung mit jemandem, der mich darin unterrichten wollte, zumindest fühlte ich mich so, wie ich meine „Emotionalität rausnehmen sollte“. Wie oft habe ich diese Aufforderung in Deutschland schon gehört. „Emotionskontrolle ist das Schlüsselkonzept zum Erfolg, Frau Schmidt”. Nun ja, ich bin ein offener Mensch und lasse mich auf derartige Argumente durchaus ein. Auch wende ich dieses Prinzip ab und an bewusst an. Es stimmt — ausflippen — im positiven wie im negativen Sinne — ist nicht immer die kraftsparendste und zielführendste Alternative.
In den allermeisten Fällen, ist mir das aber egal!
Ich habe an dieser Stelle schon oft und mit unterschiedlichen Schwerpunkten über das Thema Emotionalität und Kultur geschrieben. In kaum einem anderen aktuellen Buch habe ich für meine Gedanken jedoch so viel Aufwind erhalten. Natürlich liest man immer das heraus, was einem gefällt. Aber diese Passage spricht mir aus der Seele. Unsere Universitäten sind voll von Wissenschaftlern, die ihre Inhalte zweifelsfrei in der Tiefe kennen. Wir haben Intellektuelle, die ein Ding von vielen Seiten und in schöngeistigen Sätzen betrachten können. Aber wir haben leider sehr wenige, die in der Lage sind, diese Inhalte und Perspektiven in einer Weise zu transportieren, die menschliche Regungen zulässt — sie sogar provoziert, im positiven Sinne des Wortes.
“Das ist eben nicht deren Ding”, kann man jetzt sagen.
Klar, kann sein. Ich glaube es aber nicht. Ja, es gibt unterschiedliche Temperamente und Persönlichkeiten — alles fein, gekauft. Aber warum ist es dann so, dass Menschen auf den berühmt berüchtigten Weihnachtsfeiern in Deutschland (zumindest vor Corona) plötzlich ein ganz anderes Gesicht zeigen? Plötzlich können sie lachen und jubeln. Plötzlich können sie auch streiten und sich raufen. Es sind doch die gleichen Menschen. Es sind die gleichen Menschen, die sich tagtäglich hinter einem Anzug verstecken und ihre Mimik und ihr Herz ausschalten, um ja nicht aufzufallen — um ja nicht laut zu werden — um ja keine Emotion zu zeigen. Und, Gott bewahre, um ja nicht zu streiten, denn das könnte einem ja irgendwie angelastet werden…
Kurzum: Wir haben das Menschsein verlernt.
Natürlich ist das kein rein deutsches Problem — es ist aber eben in besonderer Weise etwas Deutsches. Der Deutsche besticht durch Sachlichkeit, Präzision und Fachwissen. Sehr schön, Gratulation! Momentan haben uns all diese vermeintlichen Tugenden in eine Position gebracht, wo wir bestenfalls zuschauen wenn es um technologische und soziale Innovationen geht. Trotzdem halten wir an dem Image fest, denn wir haben gelernt, dass Emotionen ins Verderben führen können. Wir alle haben in der Schule noch die Bilder von einem gestörten Geisteskranken im Kopf, wie er die Massen mobilisiert hat. Ja, das war auch emotional im allerfürchterlichsten Sinne. Seitdem aber haben wir uns vorgemacht, dass wir keine Emotionen mehr brauchen. Dabei haben wir eines vergessen:
Unterdrückte Schuld fördert auch Emotionen.
Die müssen irgendwo hin.
Nicht auf den inneren Friedhof.
Manchmal frage ich mich, und das ist jetzt so gewagt, dass sicher viele gern mit mir darüber streiten würden, ob wir Deutschen Katastrophen wie die aktuellen in der Welt, nicht als so eine Art emotionales Ventil benutzen. Wir freuen uns, wenn wir endlich etwas Gutes tun können. Wir sind Spendenweltmeister. Wir machen und gucken stundenlange Fernsehshows mit weinenden Menschen und grausamen Bildern, damit wir zeigen können, wie „solidarisch“ wir sind. Nein, falsch, wir sind solidarisch, das stimmt, auch wenn ich das Wort fehl am Platze finde. Wir sind aber vor allem eines in diesen Momenten: Endlich mal emotional, endlich mal empathisch. Wenn wir anderen helfen dürfen und können, dann zeigt Deutschland, dass wir auch anders können — wir können fühlen.
Wow!
Welch ein Armutszeugnis.
Wäre es nicht hilfreicher, Fühlen auch in das Tugendbuch Deutschlands aufzunehmen — am besten in den Lehrplan?
3. Streit-Bildung
Hier kann ich es ganz kurz und praktisch machen zum Abschluss: Was Friedman über die Kunst des Streitens und Debattierens aus dem Angelsächsischen Raum schreibt und über die Tatsache, dass unser Bildungssystems das eben ganz und gar nicht mehr fördert, muss ich nicht lange kommentieren. Jeder, der mich liest, weiß, welche ein streitbarer Geist ich bin, gerade beim Thema Hochschulbildung. Ja, wir bilden „Ja-Sager“ aus. „Aber wir haben doch diese tolle Generation von “Fridays for Future” und richtig engagierten jungen Leuten“, höre ich dann viele einwenden. Stimmt, aber wenn es darum geht, ihr Hab und Gut, ihre Reputation, die schönen dicken Autos ihrer veganfreie-Wurst essenden Eltern aufs Spiel zu setzen, dann sieht es schon anders aus. Außerdem: Streiten braucht Fähigkeiten, die mehr als nur den bloßen Willen bedingen. Das muss man lernen, üben und immer wieder mit Leidenschaft überall hintragen, wo man ist.
Was ich sagen will: Es stimmt, wir müssen auch das Streiten irgendwo im Curriculum unterbringen und ich danke Herrn Friedman, dass er mich auf diese Idee gebracht hat. Es ist wieder höchste Zeit, streitbare Geister auszubilden, die nicht nur reden, sondern auch machen können. Vor allem aber, sollten sie wieder das können, was sie zwar pausenlos tun, aber doch mit wenig bis keinem sichtbaren Erfolg: Kommunizieren und das auch mit Büchern wie diesem. Es braucht kein Studium, kein Abitur, um den klaren Worten in diesem Buch zu folgen. Es braucht keinen Fächerhintergrund oder Glossar für Fremdwörter. Folglich braucht es auch keine Entschuldigung, warum man sich nicht bildet mit diesem und anderen Büchern.
Wenn jemand mit mir über Bildung streiten möchte — sehr gern.
Reflexionsfragen
1) Kannst Du Dich an Momente erinnern, in denen Du Deine Eltern (neu) kennen gelernt hast?
2) Wie denkst Du über emotionale Intelligenz als Grundvoraussetzung zum Streiten als „Methode“ des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung?
3) Wenn Du die Lehrpläne an den Universitäten gestalten könntest, welches Fach/welche Veranstaltung würdest Du verpflichtend einführen?