# 540: BOOK REFLECTION — “Hilflose Helfer.”

Silke Schmidt
7 min readNov 17, 2024

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Schmidbauer, Wolfgang (1977/1992). Hilflose Helfer: Über die seelische Problematik der helfenden Berufe.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Zuletzt habe ich über Schmidbauers Buch Alles oder nichts geschrieben. Diese „Serie“ wäre nicht komplett, wenn ich nicht auch über dieses Buch schreiben würde. Wie bereits beschrieben, fanden mich diese Titel in einer Klinikkapelle. Doch das Thema Helfen als Falle in gewisser Weise hat mich sehr viel länger beschäftigt als nur während meiner Klinikbesuche, die sicher auch so schnell nicht enden werden. Doch sehr lange war mir nicht bewusst, dass Helfen und Narzissmus in einer Verbindung stehen könnten. Lässt man sich aber auf den Gedanken ein, dann werden einem beim Lesen schnell einige Dinge klar. Und mir hat es die Augen in so mancher Hinsicht geöffnet.

Ich habe mich in der Folge auch gefragt, ob mein Blog ein Ausdruck meines weiterhin anhaltenden Helfersyndroms ist. Ich kann nicht ausschließen, dass das mal so war. Heute kann ich sagen, dass mein Blog gern Menschen helfen darf. Doch ich will nicht missionieren. Und ich will mich auch nicht bloß „selbst-darstellen“, auch wenn das Schreiben mein Selbst ausdrückt. Das ist etwas anderes. Trotzdem hat das Hinterfragen immer wieder gut getan. Denn mein theologischer Weg, mit dem ich mich durchaus identifiziere — zumindest bezüglich meiner eigenen nicht-dogmatischen Spiritualität — hat mich auch immer tiefer in die Welt des Helfens und der Helferlein gezogen. Das durfte und sollte so sein, damit ich daraus lernen konnte.

  1. Unersättlichkeit und Gegenseitigkeit
Schmidbauer 81

Wenn man sich mit Magersucht näher beschäftigt, findet man irgendwann raus, dass der vermeintliche Verzicht, der sich im Hungern ausdrückt, eigentlich durch eine brodelnde Unersättlichkeit getrieben ist. Und oftmals geht das mit einer Menge an unausgelebter Aggression einher, die Betroffene gegen sich selbst richten, weil sie sie nicht anders ausleben können. Das alles scheint vermeintlich paradox, dass jemand gerade nicht isst, weil er so viel essen will. Doch so ist es. Da ist eine Gier, die so stark weil unausgelebt ist, dass sie sämtliche Grenzen sprengen würde. Bei Menschen mit Bulimie bricht sie manchmal in Form von Fressattacken sichtbar durch. Bei Menschen mit Anorexie bleibt sie eingesperrt. Man kann nicht aufwägen, was von beidem zu mehr Schmerz in der Seele und im Körper führt. Beides ist einfach nur Leid.

Warum schreibe ich nun über diese Krankheiten?

Narzissmus und damit gekränkte Selbstentwicklung und mangelnder Selbstwert gehen oft mit Sucht einher. Doch Schmidbauer schreibt auch immer wieder davon, was das mit mangelnder Gegenseitigkeit in Beziehungen zu tun hat. Es ist meine Verbindung hier zur Essstörung, die ich zusätzlich damit verknüpfe. Das soll es nicht unnötig kompliziert machen. Das Thema Beziehung und Narzissmus ist einfach kompliziert. Man kann es auch nicht künstlich vereinfachen. Doch wer zu sich ein so gestörtes Verhältnis hat, dass er sich quasi für ein Nichts hält, dem wird schnell deutlich, warum wirkliche Gegenseitigkeit, die mit dem realen Selbstbild verknüpft wäre, niemals eine wirklich liebevolle, stabile und auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung fördern könnte. Das geht einfach nicht, auch wenn man sich das als Betroffene so sehr wünscht.

Das Thema Intimität, das Schmidbauer hier auch anspricht, ist dabei nicht nebensächlich. Ein Zulassen von gelebten Emotionen geht immer mit der Abgabe von Kontrolle einher. Sprich, es braucht das Vertrauen, dass der/die Andere mir gut tut — dass es kein anderes Motiv gibt. Und gleichzeitig ist da auch in gewisser Weise ein „positiver“ Egoismus hinter der Gegenseitigkeit, der durchaus für sich genießen möchte — sich etwas Gutes tun und Gutes tun zu zu lassen. Gleichzeitig geht es auch darum, den Wunsch zu haben, dies jemand anders zu geben. Auch hier geht es um „passieren lassen“…

Liebe zu schenken ist noch viel erfüllender als geliebt zu werden.

Kontrolle abzugeben ist nur möglich, wenn man dem Leben und den Menschen vertraut. Und vor allen Dingen muss man dazu sich selbst vertrauen. Diese Verbindung ist anfangs nicht offensichtlich. Denn als narzisstischer Kontrollfreak vertraut man den anderen vermeintlich als letzte, sich selbst jedoch schon. Das stimmt aber nicht, denn die tiefe Unsicherheit und das Kleinsein lassen das gespielte Selbstvertrauen zu einer Lüge werden. Die ist aber nötig, denn sonst könnte man nicht überleben. Und die Suizidraten zeigen, davon spricht auch Schmidbauer an anderer Stelle, dass das selbst gebaute Kartenhaus oft genug zerbricht und in den Tod führt.

Ich wünschte, mehr Menschen würden erfahren, dass jede Selbsterkenntnis, und mag sie auch noch so bitter sein, nicht so schlimm ist, wie der Schritt aus dem Leben in den Tod.

2. Konstruktive Formen des Narzissmus

Schmidbauer 103

Wie schon an Schmidbauers Buch Alles oder nichts gezeigt, verteufelt er den Narzissmus nicht einfach als Krankheit und versucht mit jedem Wort, die krankhaften Seiten zu heilen (was eh nicht geht). Und genau diese Passage hier zeigt das konkret. Ich bleibe dabei, dass gerade der tiefe Schmerz psychischer Erkrankungen so viel Potenzial in sich trägt. Die Geschichte der berühmten Künstler und so mancher Genies aus anderen Bereichen zeigt das immer wieder. Zu Lebzeiten wissen wir häufig wenig über ihr Leiden. Aber spätestens retrospektiv wird dann deutlich, dass so manche Wunderleistung letztlich der Umgang mit seelischem Leid war. Damit will ich nicht sagen, dass alle Genies „irre“ sind. Doch der Zusammenhang bleibt hinreichend belegt.

Das lässt auch erkennen, wie wenig hilfreich der Stempel „krank“ und „krankhaft“ ist. Ich denke, es geht darum, die Wunde zu erkennen, sie bestmöglich zu heilen und das kreative Potenzial im Umgang mit ihr zu nutzen. Ich bin überzeugt, dass ich selbst ohne meine Wunden nie in der Form und in der Offenheit zum Schreiben gefunden hätte. Und ich würde nicht so laut lachen und meine kindliche Seite an mir leben. Das sind alles Dinge, die sind erst im Prozess der Heilung entstanden, aber sie brauchten eben auch das seelische Leid dahinter. Und damit wird auch klar, dass die Welt eben nicht schwarz/weiß ist, wie es „ungeheilte“ Narzissten vielleicht unbewusst sehen. Es gibt nicht per se den kranken oder geheilten Narzissten. Es gibt aber wohl ein Bewusstsein, dass durch Bücher wie die von Schmidbauer entstehen kann, dass den selbst- und andere-erniedrigenden Teil des Narzissmus eindämmen kann.

Dazu muss man sich aber auf die Reise zu sich selbst machen — ohne Maske.

3. Arbeit als Sucht

Schmidbauer 215

Jetzt schreibe ich hier wieder über Sucht, diesmal aber über eine andere: die Arbeit. Diese ist die Nr. Heilmittel für den Narzissten. Leistung ist nun mal etwas, das man am besten im Beruf ausleben kann. Und genau da kann der mangelnde Selbstwert und die nagende innere Kleinheit in positive Kraft umgewandelt werden. Ich habe da für mich noch keine abschließende Antwort gefunden. Ich bin aber sicher, dass unsere Welt eine andere wäre, wenn Führungskräfte nicht in so erheblichem Maße von narzisstischen Wunden angetrieben würden. Es ist nicht abzustreiten, dass dadurch erhebliche Leistungen gefördert werden. Dass sie so manche in den Burnout und oft in den Tod treiben, ist die andere Seite der Medaille.

Was ich nur weiß, ist, dass es bei mir mind. 15 Jahre gedauert hat, um meinen Selbstwert nicht mehr an Arbeit zu knüpfen. Das heißt nicht, dass mir Arbeit nichts mehr bedeutet. Aber da hat eine Gesundung eingesetzt, von der ich mir nie hätte vorstellen können, dass sie möglich wäre. Da ist eine Ruhe und eine sich entfaltende Selbstliebe, die neu ist und die es sich lohnt, zu entdecken. Und genau da wird einem selbst auch klar, warum einige tiefe und gegenseitige Beziehungen früher nie möglich waren. Da war einfach kein Platz. Da konnte kein Mensch sich geliebt fühlen, wenn die Sucht nach Arbeit immer stärker war. Das geht einfach nicht, egal, wie sehr man sich etwas anderes wünscht. Da gehen immer „andere“ vor — Kollegen, Chefs, Projekte, Titel… Und das tut so weh, wenn man darauf zurückblickt.

Aber Leben ist eben jetzt.

Und jetzt sieht die Welt anders aus.

Und da gibt es nur die Dankbarkeit darüber,

wie sehr die Vergangenheit

einen hat wachsen lassen.

All das bedeutet nicht, dass ich „aus dem Schneider bin.“ Es bedeutet auch nicht, dass ich andere Menschen verurteile, die Arbeit und Anerkennung als Priorität im Leben behandeln. Es bedeutet nur, dass ich heute eine andere Perspektive darauf habe und mehr Distanz. Und ich lasse jeden sein — mit seinen Zielen, die eben teils nicht mehr meine sind. Es gibt aber noch Momente, da bin ich wieder geneigt, in dem Strudel mitgerissen zu werden. Es ist verlockend, wenn der neue Chef einem täglich sagt, wie beeindruckt er ist. Da will man gleich wieder eine Schippe drauflegen und es ihm gleichtun — 14 Stunden Arbeit pro Tag. Doch dann, und dafür bin ich dankbar, meldet sich schnell die Seele wieder zu Wort und sagt: Fühle mal in Dich hinein, was da gerade passiert. Kennst Du das nicht? Bist Du Dir sicher, dass Du gerade im Flow arbeitest und in Deiner Berufung oder bist Du wieder im Wettkampfmodus — der Wettkampf um (Selbst-)Liebe und Anerkennung?

Dann gilt es, sich nicht dafür zu bestrafen und alle Wut in sich hinein zu fressen.

Es geht immer voran, jeden Tag ein bisschen mehr –

Und manchmal auch so leise,

dass man es selbst nicht bemerkt.

Aber man kommt sich und dem inneren Frieden immer näher.

Reflexionsfragen

1) Was fällt Dir zu dem Begriff „Unersättlichkeit“ ein? Gibt es Lebensbereiche, in denen Du schier „nie genug“ bekommst?

2) „Künstler haben alle einen an der Klatsche“ — stimmst Du dem zu? Meinst Du, dass kreativer Ausdruck und Kunst in gewisser Weise dadurch beflügelt werden, dass jemand sehr viel Seelenschmerz in sich trägt?

3) Was bedeutet Dir Deine Arbeit?

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