# 539: BOOK REFLECTION — “Alles oder nichts.”

Silke Schmidt
10 min readOct 13, 2024

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Schmidbauer, Wolfgang (1980/1995). Alles oder nichts: Über die Destruktivität von Idealen.

„Das Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht.“ Karl Kraus

Geschichte hinter der Buchauswahl

Viele Wochen, ja Monate, habe ich jetzt nicht mehr über Bücher geschrieben. Habe ich es vermisst? Wollte ich es ganz aufgeben? Ich weiß es nicht. Es war nicht dran. Ich musste es unterbrechen, um alles zu unterbrechen. Was zu uns gehört, was wirklich zu uns gehört, das kommt wieder in unser Leben. So ist es auch hier. Ich möchte wieder schreiben, auch über Bücher — nicht aus Zwang, nicht aus Routine oder Sucht, sondern weil es zu mir gehört.

Dieses Buch fand mich in der Kapelle einer Klinik in meiner Heimatstadt. Genauer gesagt fand mich dort ein weiteres Buch von Schmidbauer, über das ich auch noch schreiben werde (Hilflose Helfer). Auf jeden Fall bin ich so auf den Autor aufmerksam geworden. Es ist natürlich kein Zufall, dass derartige Titel im Klinikkontext, in den „helfenden Berufen“, auftauchen. Doch hat es mich überrascht, an diesem besonderen Ort innerhalb des Klinikbetriebs überhaupt Bücher außer der Bibel zu finden.

Vielleicht, nein, sehr wahrscheinlich sogar, haben diese beiden Bücher von Schmidbauer damit zu tun, dass ich länger nicht geschrieben habe. Ich musste sie erst mal verdauen — im wahrsten Sine des Wortes. Ich habe ja Anfang des Jahres viel über Narzissmus, u.a. in den Büchern von Alice Miller, geschrieben. Das Thema ist schier unerschöpflich, wenn man sich einmal hineinbegibt. Dazu braucht es Mut, denn man muss bereit sein, den eigenen Dämonen ins Auge zu schauen.

Für diejenigen, die Narzissmus nur als „Schimpfwort“ für durchgeknallte Psychopaten oder als Krankheit kennen, muss vorweg gesagt werden: Narzissmus geht jeden an. Denn die Liebe zu sich selbst ist zunächst etwas Positives und sie ist Grundbedingung von Beziehungen. Wer sich nicht selbst lieben kann, kann auch keine gesunden Liebesbeziehungen zu anderen aufbauen. Bei Schmidbauer und den meisten Büchern zum Thema geht es daher natürlich (auch) um die „krankhafte“ Seite des Narzissmus — eine Persönlichkeitsstruktur, die eben diese gesunde Selbstliebe nicht kennt und durch eine falsche und destruktive Hülle überlagert wird.

Die Tatsache, dass Schmidbauer u.a. ein Experte zum Thema Narzissmus ist, wusste ich noch nicht, als ich in der Kapelle die Klappentexte studierte und schließlich die Bücher bestellte. Doch die Titel sprachen mich sofort an. Alles oder nichts: Über die Destruktivität von Idealen. Wie oft habe ich mich selbst und haben mich andere als „alles oder nichts“ Mensch bezeichnet. Und für lange Zeit war ich da sehr stolz drauf. Doch mit der Zeit lernte ich mit allen persönlichen Abstürzen auch, dass genau mein Denken und Handeln in Extremen Teil des Problems war. Und natürlich bin ich in dem Kontext auch auf das Thema Narzissmus gekommen. Doch diese Verbindung zum Denken in Extremen hat vorher noch kein Autor, den ich gelesen hatte, so herausgearbeitet.

Es fällt mir, wie so oft, schwer über dieses Buch in einigermaßen begrenztem Umfang zu schreiben, denn fast jede Seite könnte hier zum Gegenstand meiner Reflexion werden. Es ist einfach so reich an Erkenntnissen und praktischen Beispielen. Vor allem aber gelingt Schmidbauer das, was auch schon Alice Miller, zumindest aus meiner Sicht, gut gelang. Diese Autoren schlagen sich nicht allein auf die Seite des Experten, der Narzissmus als extreme Störung beschreibt. Es geht immer um einen respektvollen Umgang mit den Betroffenen und vor allem auch um das Aufzeigen des schmalen Grates zwischen „normal“ und „destruktiv“. Und nicht vergessen werden darf auch, dass jede Störung auch ihre „Vorteile“ hat, also positive Seiten, die Betroffene nutzen können.

Dies ist natürlich nur möglich, wenn die Selbsterkenntnis voransteht — wenn man sich also eingesteht, dass da Wunden aus der Kindheit sind, die einem noch heute das Leben schwer machen. Ein schwer geschädigter Narzisst wird das kaum tun, denn er muss seine selbst kreierte Welt aufrecht erhalten und damit auch den Glauben, dass er/sie wirklich einzigartig anders und damit eben nicht gewöhnlich ist. Für alle anderen machen Bücher wie diese Hoffnung und sie zeigen auch auf, wie man sich auf die Reise machen kann, destruktive Ideale hinter sich zu lassen, die eben aus narzisstischen Verletzungen stammen.

  1. Wendepunkte
Schmidbauer 15

Natürlich beeinflussen destruktive Verhaltensweisen das ganze Leben, jeden Tag, und auch vermeintliche Kleinigkeiten. Doch derartige Situation, die eben einschneidender sind, weil sie die Zukunft sehr klar und unmittelbar beeinflussen, sind noch mal relevanter und bezeichnender. Und der Witz ist, ich habe mich sofort darin wieder erkannt. Denn genau an diesen Beispielen lernt man, was Ideale wirklich sind. Es sind jene „Wunschvorstellungen“, die sich völlig unbewusst in unser Denk- und Gefühlssystem geschlichen haben. Wir würden niemals von uns aus sagen, das ist ein Ideal. Wenn wir insgeheim einen Traummann oder eine Traumfrau vor dem inneren Auge haben, oder eine Traumnote in einer Klausur, dann würden wir nicht sagen, das ist ein destruktives Ideal. Oftmals verleugnen wir sogar, dass wir diese „Traumbilder“ wirklich in uns haben.

Doch sie sind da, bei vielen von uns.

In meinem Fall und auch in meinem Umfeld ist sicher die Prüfungssituation sehr augenöffnend. Wie oft haben Menschen Panik vor Prüfungen, die ohnehin zu den Überfliegern zu gehören scheinen. Oder sie versuchen Prüfungen immer wieder zu umgehen, da sie Angst vor dem Scheitern haben. Scheitern bedeutet für jeden etwas anderes, aber für einen Menschen, dessen Selbstwert und damit auch Selbstliebe zu fast 100% an Leistung hängt, ist das nicht nebensächlich — es ist existenziell. Und ich weiß im Nachhinein, dass ich vieles nicht erreicht hätte, hätte ich nicht diese hohen, überhöhten, meist extremen, Leistungsansprüche an mich gehabt.

Das Beispiel zeigt sehr schön, wie viel Leid derartige Ideale mit sich bringen. Man bereitet sich dieses Leid selbst. Jeder andere könnte mit einer schlechten Note oder einen sonstigen Fehler leben. Es wäre vielleicht nicht schön, aber eben nicht existenziell. Doch beim Narzissten, egal ob grandios oder verdeckt unterwürfig, steht damit alles in Frage. Und vor allem die Konsequenzen können ebenfalls extrem sein. Es kann bedeuten, dass man nach einer schlechten Note (was alles unter 1,0 sein kann) den gesamten Studiengang infrage stellt, den Lebensweg, die eigene Person — einfach alles.

Und leider betrifft eine solche Haltung eben nicht nur den Bildungs- oder Berufsweg. Die Welt der Beziehungen ist davon noch mehr betroffen. Alles muss möglichst perfekt sein, so wie man es sich vorstellt. Im Job und im Studium kann man das mit aller klammernden Selbstkontrolle und Disziplin tatsächlich größtenteils artifiziell herstellen und damit den unbewussten Glauben aufrecht erhalten, dass es ein „perfekt“ gibt. Doch bei Menschen kann man dies nicht. Die kleinste Enttäuschung, die kleinste Handlung, die dem eigenen Ideal von einem geliebten oder befreundeten Menschen entgegen geht, wird zum Grund, eine solche Beziehung zu beenden.

Man selbst ist eben doch der/die Beste und man wusste ja schon vorher, dass andere einen einfach nur enttäuschen können.

Leider steht hinter alledem eine Kinderpersönlichkeit, die eben vieles von dem, was sie sich als Kind gewünscht — ja, GEBRAUCHT — hat, nie bekommen hat. An diese Stelle traten die Ideale und da bleiben sie. Nur so entsteht langsam dieser Graben zwischen der Innenwelt und der Außenwelt, zwischen dem Leben, das um uns herum einfach so passieren darf, und dem Perfektionismus und Kontrollwahn, der immer mit einem Ideal im Kopf operiert und sich jede Minute des Lebens damit verausgabt, die Realität dem Ideal entsprechen zu lassen. Das kostet Kraft, das kostet so viel Kraft, gerade weil man selbst all diese Ideale erfüllen muss. Und genau deshalb spielt Sucht auch so eine große Rolle bei Narzissten, denn in der Sucht wird die Kontrolle für kurze Momente losgelassen — eben mit fatalen Folgen.

2. „Gelehrte“

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Ich bleibe dabei, dass es einige Berufsgruppen bzw. Berufswelten gibt, in denen narzisstisch stark gestörte Menschen häufiger zu treffen sind als anderswo. Das ist neben den helfenden Berufen (z.B. Ärzte, Soziales) auch in der Bildung, besonders in der Universität so. Hier treffen zwei sehr verlockende Umfeldfaktoren für Narzissten zusammen: Man kann sich durch Leistung Titel erarbeiten, die gesellschaftliche Anerkennung bringen, welche Narzissten wie die Luft zum Atmen von außen brauchen. Und, das habe ich super spät erkannt, man ist ständig von „Untergebenen“ umringt. Damit meine ich nicht (nur) Mitarbeitende. Ich meine, dass ein Lehrer oder Professor inmitten von Schüler/innen oder Studierenden immer unangefochten die Nr. 1 ist. Er/sie braucht sich nicht zu fürchten, dass die anderen ihn wirklich angreifen, also seine selbst aufgebaute narzisstische Hülle und seinen Selbstwert zum Wackeln bringen. Und sollte sich das jemand trauen, steht die Institution dahinter, die eben den „Gelehrten“ in seinem Status kaum angreift.

Diese Beobachtung, dass gerade narzisstisch sehr verwundete Menschen gern mit Menschen zu tun haben, die in gewisser Weise „unter ihnen“ stehen, ist vielleicht bei offensiv auftretenden Führungskräften leicht nach zu vollziehen. Dies entspricht dem populären Bild des grandiosen Narzissten, der seine Umwelt klein macht und klein hält. Sehr viel weniger bekannt bzw. offensichtlich ist es eben bei jenen verdeckten Narzissten, die scheinbar immer lieb und aufopfernd und nett zu allen um sich herum sind. Auch sie operieren nach derselben Logik. Sie hätten grundlegend Angst, sich in einem Umfeld von Gleichen zu bewegen, auf Augenhöhe. Hier würden sie ständig Gefahr laufen, dass andere „besser“ wären und das würde ihren gesamten Selbstwert über den Haufen werfen. Sie wären plötzlich ein Nichts in ihren eigenen Augen.

Was ich während meiner Beschäftigung mit Kirche gesehen habe, lässt mich vermuten, dass dieser Beruf, wie von Schmidbauer hier angedeutet, ebenfalls ein Trog für derartige Charaktere ist. Und ich sage dies nicht abwertend, sondern mit Verständnis und basierend auf Selbsterkenntnis. Wir sind alle biographisch geprägt. Und die beiden prominenten Reaktionen gegenüber väterlichen oder mütterlichen Rollenbildern sind: Entweder wir wollen in die Fußstapfen treten bzw. fühlen uns dazu indirekt gezwungen. Oder aber wir wollen damit nichts zu tun haben. Beides sind wiederum destruktive Ideale, die einerseits das Vorbild glorifizieren oder aber komplett ablehnen, ohne dabei das Gute zu sehen, wert zu schätzen, und anzunehmen.

Was ich lernen konnte, war, dass ich mir Vorbilder gesucht habe, die ich zeitweise wirklich „vergöttert“ habe. Natürlich war der “Fall” dann immer besonders groß, wenn sie diesen Ansprüchen, diesen hohen Idealen, die in meiner Gedankenwelt herrschten, nicht nachkamen, weil sie am Ende des Tages auch „nur“ Menschen sind. Oder aber ich hatte mich schlichtweg getäuscht und habe an dem Ideal festgehalten, obwohl das tatsächliche Handeln dieser Menschen dem zuvor „eingebildeten“ Ideal absolut nicht gerecht wurde und mir persönlich schadete. Wie dem auch sei: Jedes Ideal, jedes Vorbild, dem man nacheifert oder es einfach nur „bewundert“, bringt einem weg von sich selbst. Es verhindert, das eigene Selbst ebenfalls positiv und mit Stärke und als genauso “gut” zu sehen, weil man sich gedanklich immer kleiner macht als das Rollenvorbild. Erst wenn man immer und immer wieder gelernt hat, wie sehr einem das schadet, dann findet man auch langsam den Weg heraus aus der Destruktivität.

3. Wünsche und Bedürfnisse

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Dieses Thema der unterdrückten Wünsche ist der Schlüssel zum Verständnis von Narzissmus, wie Schmidbauer es herleitet und in unterschiedlichen Varianten erklärt. Und das war für mich ein gedanklicher Durchbruch, weil er so wenig pathologisierend ist und so sehr pragmatisch und letztlich ermutigend. Wenn man sich klar macht, dass narzisstische Störungen oder einfach nur narzisstische Wunden darauf zurück zu führen sind, dass wir in der Vergangenheit, meist in der Kindheit, essenzielle Bedürfnisse nicht befriedigt bekommen haben und sie uns auch zu diesem Zeitpunkt schlichtweg nicht selbst erfüllen konnten, weil es der Job unserer Bezugspersonen gewesen wäre (Hunger, Durst, Trost, Individualität— Liebe), dann versteht man so einiges.

Diese Erkenntnis hilft einerseits, sich darüber klar zu werden, dass man das in der Vergangenheit Versäumte und schmerzvoll Herbeigesehnte, nicht wiedergutmachen kann — nie wieder. Es geht nicht. Es ist vorbei. Dieser Mangel steckt in uns. Das darf man annehmen. Und dann gilt es zu erkennen, dass wir heute keine Kinder mehr sind. Die Ohnmacht von früher, die manchmal auch aus Situationen im Erwachsenenleben rührt, die dürfen wir betrauern und dann den Schmerz loslassen. Und dann darf uns klar werden, dass wir heute frei sind, unser Leben selbst zu gestalten. Wir müssen uns nicht der Ohnmacht und dem Kleinsein verschreiben. Das war etwas, das unser Denken und Handeln in der Vergangenheit geprägt hat. Es muss aber nicht mehr unser Heute und Morgen bestimmen. Wir können jetzt selbst dafür sorgen, dass wir das bekommen, was wir uns so sehnlichst wünschen.

Nun mag man sagen: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Ob nun Narzisst oder nicht — wir können uns nicht alle Wünsche selbst erfüllen und gerade die Liebe, die früher so vermisst wurde, kann man sich nicht kaufen. Das stimmt alles. Trotzdem liegt es an uns, aktiv etwas zu tun, damit wir diese Dinge bekommen. Ob es um materielle oder emotionale Dinge geht, ist ganz egal. Jeder Schritt hilft uns, zu erkennen, dass wir, trotz aller Unvorhersehbarkeit und äußerlicher Umstände, unser Leben gestalten können. Das Leben zeigt uns mit jedem aktiven Schritt, dass wir auf dem Weg sind, der uns unseren Wünschen, also der Befriedigung von tiefen Bedürfnissen, näherbringt.

Die Crux an der Sache ist es, gerade für narzisstisch verwundete Menschen, sich dieser tiefen Wünschen und Sehnsüchten überhaupt bewusst zu werden — sie zu fühlen. Das ewig gespeicherte Gefühl des Andersseins und des Besondersseins kann auch zur Folge haben, dass man einige grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Beziehung und materieller Sicherheit einfach so ablehnt, weil sie eben nur was für vermeintlich „normale“ Menschen sind, zu denen man eben selbst nicht gehört — in seinem kleinen Selbst oder eben in der selbstüberhöhenden Variante. Würde man sie doch zulassen, würde man den Mangel vollends spüren, würde man automatisch das selbst konstruierte Ideal des eigenen Außenseiter-Egos zerstören. Und das wäre ein Identitätsverlust für den narzisstisch verwundeten Menschen.

Ich finde es daher schön und hoffnungsbringend, wie Schmidbauer hier von der Freisetzung von „Kräften“ spricht, die einen dahin bringen, dass man die eigenen Wünsche sieht, fühlt und anerkennt. Das alles geht dem Handeln voraus. Das ist ein langer Weg und ich bin dankbar, dass Schmidbauer mit seinen Werken (ich werde auch noch über Hilflose Helfer schreiben), so viel Reflexion in Gang setzt, die als Hilfe zur Selbsthilfe im ganz praktischen Sinne dienen kann. Narzissmus ist nicht per se gut oder schlecht, leistungssteigernd oder krank. Wir können es nicht einfach aus der Gesellschaft wegzaubern. Es geht nicht um Wertung. Es geht, wie bei allem seelischen Wachstum, um das Lernen, Erkennen und Annehmen. Inwiefern man den Mut hat, sich den eigenen Wunden zu stellen, sie erneut aufzumachen und dann wirklich zu heilen, um unglaublich kreative Kräfte freizusetzen, darf jede/r selbst für sich entscheiden.

Reflexionsfragen

1) Was verstehst Du unter einem Ideal? Kannst Du die destruktive Seite von Idealen nachvollziehen?

2) Hast Du selbst mal ein Vorbild so „vergöttert“, dass Du Dich dabei selbst verloren hast? Wenn nicht, könntest Du Dir vorstellen, dass es mal passiert? Warum (nicht)?

3) Kannst Du Dir vorstellen, dass Narzissmus auch positive Aspekte mit sich bringt, sofern man sich damit bewusst auseinandersetzt (als Betroffene/r oder Außenstehende/r)?

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