# 520: BOOK OF THE WEEK — “Das Drama des begabten Kindes.”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Dies sind die wichtigsten Tage seit mehr als zehn Jahren für mich. Wenn ich vorher mal von „Heilung“ geschrieben habe, dann war das falsch. Da war noch vieles nicht geheilt. Aber jetzt wurde es durch die Liebe zu einem Menschen an die Oberfläche katapultiert. Dafür bin ich dankbar, auch wenn es nicht einfach ist. Aber ich habe mir das gewünscht — nichts anderes habe ich mir gewünscht seit so vielen Jahren, als dass ich LEBEN dürfte, wirklich leben. Dass ich das nicht glücklich konnte, war eine tiefsitzende Vermutung. Ich wusste, dass da noch was war, wo ich nicht rankam. Und nun war es soweit.
Das Buch war ganz oben auf einem meiner Regale. Als ich am Montag darauf kam, wollte ich es erst bestellen. Ich musste es unbedingt haben, sofort. Ich wusste, dass darin die Fragen beantwortet würden, die ich mir schon mal beantwortet hatte. Doch das reichte eben nicht. Dann rief ich Buchhandlungen in der Stadt an, um es sofort zu bekommen. Ich wollte nicht bestellen — nicht warten einen Tag. Ich wollte es jetzt haben, sofort, wie ein Kranker den Arzt. Doch keiner hatte es. Und irgendwie hatte ich dieses Gefühl, dass es hier irgendwo sein musste. Ich erinnerte das Cover.
Nach mehrmaligem Suchen an der falschen Stelle fand ich die richtige. Da lag es, ganz oben auf — auf dem „falschen“ Regal, wo eigentlich nicht die Psycho-Ecke ist. Aber das war völlig egal. Ich wusste, es hatte dort auf mich gewartet. Und als ich es durchblätterte wusste ich auch, dass ich es wohl noch nie „richtig“ gelesen hatte. Jedes Buch, das ich „richtig“ gelesen habe, schon gleich von dieser Art, hat hunderte von Unterstreichungen und Eselsohren. Dieses hatte nur drei bis fünf Markierungen an wenigen Stellen. Das passte nicht zu meinem Leseverhalten. Entweder war ich zuvor noch nicht bereit für die Erkenntnisse, die darin auf mich warteten. Oder ich hatte sie nicht begriffen.
Wie dem auch sei — ich habe das Buch an zwei Tagen verschlungen. Das liegt nicht daran, dass man das Buch nicht auch an einem Tag lesen könnte. Es liest sich wie von selbst. Nur setzt es so viel in Gang, dass man einfach zwischendrin eine „Pause“ braucht. Wie beim Coaching oder der Therapie ist diese Pause die eigentliche Arbeitszeit mit dem Selbst. Und genau dem gab ich mich und tue das noch. Trotzdem wollte ich jetzt schreiben, auch wenn ich nicht viel schreiben werde. Denn ich könnte über fast jede einzelne Seite darin berichten. Doch das wäre Quatsch, völliger Unsinn. Jedes Wort von mir würde die Worte von Alice Miller nur vernebeln.
Wer klar in sich ist
Wer weiß,
wer er ist,
der braucht nicht viele Worte.
Genau um diese Klarheit geht es…
- Selbstwert
Tja, das sagt sich so leicht. „Man muss doch wissen, was man fühlt.“ Das ist eben nicht so, wenn man es nicht gelernt hat. Und es ist noch viel schlimmer, wenn man sich einbildet, dass man es mal gelernt hat — weil es ja einfach irgendwie „normal“ ist. Das ist leider nicht so. Und dann wird man mit 40 wach und begreift plötzlich, dass man erst jetzt das Baby ist, dass anfangen kann, wirklich zu fühlen — sich wirklich etwas WERT zu sein, weil man spürt, wer man ist, dass man kein anderer ist als man SELBST.
Doch was ist dieses Selbst?
Wenn man dieses Buch durch hat, dann fängt man damit an. Ich bin nicht mehr an diesem Punkt. Diese Reise wurde vor fast 15 Jahren ausgelöst. Aber offensichtlich bin ich irgendwo auf dem Weg falsch abgebogen. Wobei das eben dazugehört. Die Rastlosigkeit ist Teil des Ich-Verlustes. Aber man kann nichts verlieren, was man nie hatte. Und genau das ist das Schöne. Wenn man dann begreift, wie das kam, dass man nie wusste, wer man eigentlich war und ist, dann bringt das so viele Möglichkeiten. Aber vor allen Dingen öffnet es das Herz…
2. Widerholungszwang
Klar, wir kennen das alle aus den Krimi oder der Tageszeitung. Da gibt es Frauen, die holen sich immer wieder gewalttätige Männer ins Haus. Das ist stereotyp. Natürlich kann körperliche Gewalt auch Teil von narzisstischer Erziehung sein. Meist ist das alles aber sehr viel subtiler und daher schneller ins Unterbewusstsein abgeschoben als wir uns wünschen würden. Wobei, „wünschen“ würde sich das keiner…
Jedenfalls ist das Tückische eben, dass wir das, was uns angetan wurde, immer replizieren im späteren Leben. Und das noch Tückischere ist, dass wir das schon lange „verstanden“ haben können — in der Theorie und sogar in der Praxis. Nicht umsonst schreibt Miller zu Beginn des Buches davon, dass der Beruf des Psychoanalytikers sehr beliebt bei Menschen ist, die viel fühlen und sehr gut denken können, aber eben eines nie hatten: ein eigenes, erwachsenes, gesundes Selbst. Das haben sie nie entwickelt. Das konnte sie gar nicht, weil sie nie wirklich und wahrhaftig mit all ihrem Sein, ihren wahren Gefühlen geliebt wurden.
Ist das ein Wunder, dass man da Süchte entwickelt, die über menschliche Beziehungen hinaus gehen?
3. Trauer
Wir verwenden diese Aussage „es ist mir bewusst geworden“ irgendwie oft in der Alltagssprache. Aber die tiefe psychologische Bedeutung dahinter, die haben wir selten auf dem Schirm. Das ist auch gut so, denn es gibt offensichtlich Menschen auf der Welt, die hatten eine andere Kindheit und konnten ein gesundes Ich entwickeln. Für alle anderen ist der Schritt der Bewusstwerdung tatsächlich der Schlüssel. Damit ist die Tür noch nicht auf, aber es beginnt sich etwas zu bewegen. Und das muss es auch. Denn Bewusstwerdung hat etwas mit Kognition zu tun, mit Verstehen. Die richtige Arbeit beginnt, wenn es ans Fühlen geht.
Ich habe mich gerade in den letzten Monaten immer gefragt, wie das kommt, dass mich bestimmte Themen jetzt wieder so oft finden. Trauer stand da ganz oben auf — eine Trauerrede kam zu mir, die Zusammenarbeit mit dem Bestatter, andere kreative Ideen. Irgendwie weiß ich natürlich, dass mich Trauer fasziniert, weil es mit Loslassen zu tun hat. Und Loslassen wiederum ist mein Thema des letzten Jahres. Und Loslassen heilt so ungemein wie kaum etwas anderes im Leben.
Aber ich hatte das alles noch nicht richtig begriffen.
Ich hatte die Puzzleteile noch nicht zusammengesetzt,
noch nicht gefunden.
Wenn wir gemeinhin an Trauer denken, dann denken wir immer an „andere“. Wir denken daran, dass Menschen sterben und vielleicht Tiere. Und manchmal trauern wir auch um „Sachen“, die wir lieb gewonnen hatten. Aber das, was uns anhaftet, war wir nie hatten, wonach wir uns sehnen — die gesunde Liebe der Kindheit, das kommt uns nicht in den Sinn. Das suchen einige von uns ein Leben lang. Aber weil uns nicht bewusst ist, dass es das ist, was uns rastlos macht, hören wir nicht auf zu rennen. Und wir können folglich auch nicht trauern. Was sollten wir denn „beerdigen“, wovon wir nicht wissen, dass es das gibt.
Unsere Kindheit,
die anders war,
als wir uns immer selbst erzählten.
Eine Kindheit,
die unser Leben geprägt hat,
für immer.
Unsere Beziehungen,
unsere Liebe,
unsere Berufung.
Wenn wir trauern, dann lernen wir, die tiefen Tränen hervor zu holen, die Selbstliebe ermöglichen. Wir lernen, dass es eben NICHT um ANDERE geht, die man sozial konform betrauern darf. Wir lernen, dass es in erster Linie um uns geht. Man könnte natürlich sagen, darum geht es bei der Trauer um andere auch, weil wir in Wahrheit an den eigenen Tod denken, wenn wir am Grabe des anderen stehen. Aber darum geht es nicht. Es geht hier um uns. Es geht darum, das anzunehmen, was geschehen ist — es geht um die ganzen Trauerzyklen, die damit einhergehen. Erst dann kann Integration stattfinden und schließlich sogar Dankbarkeit.
Unsere Wunden führen uns zum Licht.
Das hatte ich schon seit Langem auf meine Website geschrieben.
Ich hatte die volle Bedeutung für mein Leben aber noch nicht verstanden.
Auch hatte ich nicht verstanden,
wie das mit meiner Kreativität zusammenhängt.
„Ihre Voraussetzung ist die Trauerarbeit und nicht, wie oft angenommen wird, die Neurose“ (162).
Jetzt macht alles Sinn und die volle Freiheit breitet sich aus.
Nein, ich möchte kein „anderer“ mehr sein,
auch wenn ich noch nicht vollends weiß,
wer ich eigentlich sein kann.
Das wird sich aber zeigen.
Danke, Alice Miller für den Schmerz, den Du geteilt hast,
damit er uns weinen lässt –
Tränen des Schmerzes
Und schließlich Tränen der Dankbarkeit.
Reflexionsfragen
1) Hast Du manchmal das Gefühl, mangelnder Selbstwert ist eine Ursache für Probleme in Deinem Leben, die Du noch nie richtig gesehen hast? Wenn ja, inwiefern?
2) Hast Du schon mal Wiederholungszwang bei Dir festgestellt (z.B. in Beziehungen, Süchten)?
3) Kannst Du Dir vorstellen, um Dich selbst bzw. um Dein „nie entwickeltes Selbst“ in der Kindheit zu trauern? Hast Du es vielleicht schon gemacht?