# 513: JOURNAL OF THE WEEK — „Trauma”

Silke Schmidt
8 min readJan 26, 2024

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Eißen-Daub, Helene, et al., Hrsg. (2023/2): „Trauma.“ Unterwegs zu Menschen — Besuchsdienstmagazin.

Geschichte hinter der Magazinauswahl

Diese Woche bin ich wieder spät dran mit dem Schreiben. Dafür bin ich noch genau rechtzeitig mit dem Thema für eine Fortbildung, die mich heute und morgen beschäftigen wird. Dabei geht es auch schwerpunktmäßig um den Umgang mit Traumatisierten, speziell im Kontext von politischer Gewalt und Flucht. Genau deshalb kam mir dieses Magazin wieder in den Sinn. Ich hatte es ebenfalls im Rahmen einer Fortbildung im Bereich der Seelsorge am Zentrum für Seelsorge und Beratung der EKHN bekommen. Seitdem habe ich es sogar bis nach Hamburg und wieder zurück geschleppt. Aber zum Lesen kam ich nicht. Das änderte ich nun gestern, als ich mir die einzelnen Beiträge wirklich in Ruhe durchlas.

Ich muss sagen, dass heutzutage ja Magazine oder Zeitschriften von kleinen Institutionen kaum noch „relevant“ sind. Alles muss ja irgendwie online sein und krachen und am besten eine Reichweite von x-tausend Menschen haben, damit „man“ darüber spricht — also eine Wirkung in Richtung Diskurs und Wahrnehmung stattfindet. Leider geht es dabei selten um den Inhalt. Und es geht auch immer seltener um die wirkliche Güte der Texte. Die interessiert heutzutage in Zeiten von AI-generierten Texten auch kaum jemanden mehr. Was ich aber sagen will: Dieses Magazin strotzt diesen ganzen „Trends“. Es setzt offensichtlich auf Qualität in der Güte der Beiträge, ihrer fachlichen Tiefe und der Sorgsamkeit der Redaktion. Dabei ist die Machart durchaus nicht altbacken, sondern trotz aller Tiefe und Breite auf den Punkt gebracht.

Wer dabei gar nichts Neues lernt, hat beim Lesen gepennt…

  1. Sich selbst nicht verstehen
Seifert 5

Gerade im letzten Jahr habe ich mich sehr viel mit Trauma auseinandergesetzt. Und eine wesentliche Erkenntnis für mich war, dass das Thema viel weit verbreiteter ist, als man gemeinhin als „Laie“ annimmt. Natürlich ist diese Feststellung eine Nebenwirkung der Tatsache, dass ich mich mit dem Thema beschäftigt habe. Man sieht dann bekanntlich überall das, was einen gerade beschäftigt. Trotzdem bleibe ich dabei, dass das Wissen um die Vielschichtigkeit von Trauma uns dafür sensibilisiert, Trauma als Ursache von Verhaltensweisen zu erkennen, die uns verunsichern oder vielleicht vor Rätsel oder gar Konflikte stellen. Das betrifft andere Menschen. Das betrifft natürlich auch uns.

Als ich diesen Satz las zu „sich selbst nicht verstehen können“, da wurde ich an diese Gedanken und Selbstreflexionen erinnert. Das ist genau diese Facette von Trauma, die man lange nicht für möglich hält, wenn man sich eben gänzlich selbst nicht mehr versteht und daher leider sehr gut nachvollziehen kann, dass das andere auch nicht mehr können. Das genau verursacht dann aber noch mehr Selbstzweifel und letztlich einen Mangel an Selbstwert. Das passiert gerade dann, wenn wir wissentlich gar nichts „Schlimmes“ erlebt haben. Bei Trauma denken wir immer an Gewalttaten oder Katastrophen. Aber wenn uns das wissentlich nicht widerfahren ist — wieso sollten wir dann traumatisiert sein?

Genau diese Vielschichtigkeit und die vielen Ursachen von Trauma werden in dem Heft differenziert dargestellt, ohne dabei überkomplex zu wirken. Tatsächlich ist es aber so, dass jeder Mensch ein anderes “Nervenkostüm” hat, um mal diesen blöden Begriff zu verwenden. Wir sind aber alle mit anderen physiologischen und psychischen Eigenheiten ausgestattet. Natürlich gibt es da eine gewisse menschliche Schnittmenge, so dass eben kriminelle Handlungen und schwere Unfälle bei einer hohen Fallzahl von Menschen „traumatisch“ wird, also nicht „einfach so“ verarbeitet werde kann. Gleichwohl können uns auch Dinge mitnehmen, die eben jemand anders locker „wegsteckt“. Dann kann auch Trauma dahinterstecken, auch wenn wir eben meinen, da war doch gar nichts…

Gerade dieses Verständnis über sich selbst, oder das unbewusste Vergessen, ist auch ein Aspekt, der im Magazin den Akteuren ans Herz gelegt wird. Es ist ein Besuchsdienstmagazin und damit eines, das für Praktiker/innen bestimmt ist — in erster Linie Ehrenamtliche, aber auch Hauptamtliche, die in irgendeiner Form Menschen im kirchlichen Auftrag begleiten. Dabei handelt es sich per se um eine Gruppe von Menschen, die anderen zugeneigt sind. Und natürlich kommt diese Zuneigung oft aus einem Hintergrund eigener „schwieriger“ Erfahrungen an irgendeinem Punkt im Leben. In dieser Konstellation die Distanz zu wahren und gleichzeitig sehr offen und aufmerksam dafür zu sein, ob man nicht doch auch eigene traumatische Erfahrungen in Seele und Körper gespeichert hat, die dann der eigenen Arbeit mit Betroffenen nicht unbedingt gut tun, ist ebenfalls ein gelungener Aspekt auf den wenigen Seiten dieses Heftes.

2. Emmaus

Johanns 17

Ich muss ja gestehen, dass ich bei der Wahl zwischen psychologischen oder belletristischen Texten und theologisch-biblischen Texten eher zu den ersten beiden Kategorien neige. In diesem Heft kommen aber schöne theologische Passagen mit hinein. Und mit dieser thematischen Verknüpfung haben sie mich nicht nur angesprochen, sondern wirklich überzeugt bzw. mir Freude gemacht. Das war in besonderer Weise bei dieser „anders gelesenen“ Interpretation der Emmaus-Geschichte so.

Noch vorgestern fuhr ich an einer Kirchengemeinde vorbei, die Emmaus hieß. Ich wusste schon — „oh, da hast Du wieder eine theologische Schwachmathiker-Lücke“ entdeckt. Eigentlich müsste man ja als Theologiestudentin sofort wissen, worum es da geht. Ich konnte aber nichts damit anfangen, gerade weil es mit meiner Bibelfestigkeit eben nicht so gut bestellt ist. Andererseits zeigt eben genau die Beschreibung dieser Geschichte, warum das so ist. Ich habe die Emmaus-Geschichte wahrscheinlich schon öfter gehört und gelesen. Aber ich habe sie nicht unter “Emmaus” abgespeichert, weil Ortsnamen und überhaupt Namen bei mir nicht hängen bleiben. Und außerdem geht es mir eben meist um ganz andere Dinge in den Texten, egal, ob andere Kirchenbewanderte mit ihrem Bibelwissen die ein oder andere Geschichte als „absoluten Klassiker“ anpreisen, während mich eben nur das interessiert, was mich eben interessiert, egal, was andere dazu wissen oder sagen...

Jedenfalls finde ich das eine tolle textliche Interpretation, die sehr schön die unterschiedlichen Phasen des Umgangs mit Trauma beschreibt. Es ist wunderbar „ausgelegt“. Allein dieses emotionale „Gebundensein“, das sich hier an einem Ort und an entsprechenden Gesprächen festmacht, ist etwas so Zentrales beim Thema Trauma. Man kann es nicht einfach „hinter sich lassen“, auch wenn man sich das noch so sehr wünscht. Einfach aufstehen und vergessen haben, dann ginge das Leben ganz leicht weiter — natürlich ist das eine Vision, die wahrscheinlich jede/r Traumatisierte mal hatte. Und trotzdem geht es eben nicht und ich glaube, das ist auch gut so.

Die Verarbeitung von Trauma ist eine lange Reise — weit länger als der Fußmarsch zwischen zwei Dörfern; und seien sie noch so weit entfernt voneinander. Und doch wartet da eben ein ganz besonderer neuer Lebensort auf einen. An diesem Punkt angelangt, lässt man das Geschehene in gewisser Weise zurück, aber man lässt es nie ganz los. Man versteht nur und schätzt schließlich, dass es zu einem gehört, dass es das eigene Leben in besonderer Weise prägt und sogar „bereichert“. Damit ist gemeint, dass man lernt, Frieden mit etwas zu machen, das vorher ganz und gar unannehmbar war.

Frieden heißt dabei Vergebung, wie es auch im Heft an anderer Stelle beschrieben wird. Vergebung wiederum heißt aber nicht, alles hinzunehmen. Es bedeutet aber, an den Punkt zu kommen, wo man den Auslösern des Traumas auf Augenhöhe begegnet und nicht mehr emotional reagiert — mit Ausnahme vielleicht einer liebevollen Reaktion, die an „Feindesliebe“ heranreicht, wobei das sicher etwas ist, das nur wenigen gelingt. Doch das muss nicht heißen, dass wir nicht danach zu streben brauchen. Wenn es etwas gibt, das uns wirkliches Glück und inneren Frieden bringt, dann ist es die Vergebung, die Wut und Zorn und Ohnmacht übersteigt.

3. Segen

Johanns 17

Irgendwann habe ich schon einmal über den Segen geschrieben, ich glaube, da ging es um Trauer und Seelsorge. Jedenfalls tue ich es heute wieder, da mich diese Passagen erneut berührt haben. Ich bin ja nun wahrlich kein leidenschaftlicher Kirchgänger und kann mit Liturgie ungefähr so viel anfangen wie mein Hund mit wissenschaftlichen Vorträgen. Trotzdem ist dieser Moment des Segens am Ende eines Gottesdienstes immer etwas Besonderes. Man steht da und denkt, wow, nun schenkt Dir — wirklich Dir als einzelner Mensch — dort vorne ein Mensch im Talar, der da auch wirklich aus Glaube und Überzeugung steht, den Segen von etwas Höherem. Das geht unter die Haut. Und da geht es nicht nur mir so.

Man weiß aus Studien, dass der Segen unter allen rituellen Handlungen von Geistlichen eine besondere Stellung hat. Nicht umsonst rennen ja auch Paare, die eigentlich wenig mit Gott am Hut haben, zur Hochzeit in die Kirche, um ihre Liebe da eben unter „den Segen Gottes“ stellen zu lassen. Ich glaube nicht, dass sie das rein aus gesellschaftlichen Erwartungen oder Tradition tun. Da schwingt schon etwas Besonderes mit, was man eben auf dem Standesamt oder bei einer rein säkularen Trauung nicht haben kann. Und ich würde sagen, das ist eben dieses besondere Gefühl, welches auch von der Armhaltung des Segnenden und dem rituellen Moment getragen ist.

Es stimmt also, dass an der Segnung etwas „Dramatisches“ im performativen Sinne ist, wie es die Autorin hier beschreibt. Mir gefällt aber besonders das Zitat von Steffensky am Ende. Er war der Mann von Dorothee Sölle und es gibt ein paar sehr schöne Schriften über ihre Liebe und auch ein Gedicht, das er ihr nach ihrem Tod geschrieben hat. Jedenfalls ist bei seiner Theologie — und bei ihrer natürlich auch — eine ganze Menge an Liebe spürbar. Deshalb kann ich auch mitgehen bei dem, was er hier zur “Zärtlichkeit aller” beim Segen schreibt. Für einen Moment lang scheint es, als berühre einen der/die Segnende wirklich mit seinen/ihren Händen. Und genau in diesem Moment verbindet sich zumindest die Fähigkeit der Menschen an diesem Ort der Segnung, das gleiche auch mit den Mitmenschen zu tun, zumal das ja möglich ist ohne kirchliches Amt.

Ich wünschte mir,

wir alle würden mehr Segen sein für andere in diesen Tagen,

hätten mehr Mut zur Berührung von “Fremden”,

mit Worten und Taten.

Dann gäbe es vielleicht nicht gleich weniger Gewalt auf der Welt,

aber mehr Hoffnung, dass Leben auch anders geht,

und am Ende eine traumatisierte Generation weniger in der Menschheitsgeschichte.

Reflexionsfragen

1) Würdest Du jemals in einem „Besuchsdienst“ aktiv werden (egal, ob kirchlich oder anderswo) und Dir zunächst fremden Menschen Deine Zeit und Nähe schenken? Warum/nicht?

2) Welche biblische Geschichte fällt Dir ein, die ein Thema oder eine Situation beschreibt, mit der Du viel zu tun hast (privat oder beruflich)? Wie hast Du von dieser Bibelgeschichte erfahren?

3) Teilst Du die Gedanken zum Segen als besonders emotionales Ritual? Warum/nicht?

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