# 509: Liebe sagen
Eine Abkürzung zur Bibel
Silke Schmidt
inspiriert von GF, unterstützt von JL, DR, BK
gewidmet allen, die mit dem Leben hadern oder Angehörige von psychisch erkrankten Menschen sind
Neujahr 2024
English version: https://silkeschmidt-32637.medium.com/509-saying-love-1-b16b23331c9f
Vor einigen Wochen hörte ich einen Pfarrer sprechen, der Seelsorger in einer Psychiatrie ist. Er sagte viele Dinge während seines Vortrages, die ich nicht unbedingt teile. Ein Satz aber blieb kleben: „Wissen Sie, trotz all der Vorkehrungen in der Psychiatrie haben wir bestimmt einen Suizid pro Woche. Und ich beerdige einige der Menschen. Wenn ich dann sehe, wie viele Freunde und Verwandte da trauern, dann denke ich bei mir: Hätte der-/diejenige gewusst, wie viele Menschen jetzt trauern, dann hätte er/sie sich nicht umgebracht.“
Das stimmt. Ich bin überzeugt davon, dass das wahr ist.[1] Wir müssen nicht gleich an Suizid denken, um das zu verstehen. Viele von uns sind schon tot, obwohl unser Herz noch schlägt. Wann immer wir uns nicht selbst fühlen und nicht strahlen, sind wir ein bisschen tot. Das hat einen ganz einfachen Grund: Wir versprühen keine Liebe. Und das wiederum können wir nur, wenn wir uns geliebt fühlen. Das klingt wie ein Spruch aus dem Poesiealbum. Das macht es nicht unwahrer. Genauso wie die jährlich 10.000 Suizidtoten eine Wahrheit sind. Jede/r Einzelne von ihnen ist einer zu viel. Doch wie kann man das ändern?
Mir war lange gar nicht klar, dass die Frage, wie man Tod „verhindern“ kann in mir ist. Lange dachte ich, meine Berufung sei vielleicht darin zu finden, Menschen glücklicher zu machen. Das schließt sich natürlich nicht aus. Mehr Glück bedeutet weniger Tod. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich war fast 10 Jahre magersüchtig, ein paar weitere Jahre noch „ein bisschen“. 15% sterben an der Krankheit. Ich lebe noch. Dafür bin ich dankbar — so dankbar, dass ich vor Liebe in mir fast jede Minute heulen könnte. Weil das auch anstrengend ist auf die Dauer, schreibe ich für Dich diese Zeilen hier, liebe/r Leser/in. Du wirst bald verstehen, warum.
Will ich hier nun einen „religiösen“ Ratgeber schreiben oder Menschen von Theologie „überzeugen“? Nein, darum geht es nicht, auch wenn mein Glaube mir geholfen hat. Aber diese kleine Schrift ist für ALLE Menschen gedacht. Auch für jene, die nichts mit der Bibel und Kirchgängen anfangen können. Wer meint, das braucht er/sie nicht, braucht es nicht. Fertig. Am Ende ist auch die Bibel ganz simpel. „Glaube, Liebe, Hoffnung.“ Darum geht es in zwei Testamenten und 66+ Büchern. Wer die tiefe Bedeutung dieser drei Worte auch ohne Bibellektüren begriffen und verinnerlicht hat, wer sie zudem LEBT, der braucht keine Bücher mehr — auch nicht die Bibel oder Buddha oder sonstwelche Begleiter.
Wenn es nun um das LEBEN der biblischen Botschaft und damit der Liebe geht, bin ich beim eigentlichen Inhalt meines Textes angekommen. Da hört es nämlich auf mit „einfach“, zumindest im ersten Schritt. Denn Liebe fühlen und Liebe sagen — dazwischen liegen Welten, behaupte ich. Ich bin sogar überzeugt, dass der Großteil der Pfarrer/innen, die wöchentlich am Sonntag von Liebe in der Kirche reden, im wahren Leben NICHT von Liebe sprechen können. Was ich mit „Liebe sagen“ meine, ist ganz einfach: „Ich liebe Dich.“ Ich meine nicht: „Du bist ein toller Mensch, so viele schätzen Dich, Du bist so klug, ich vermisse Dich.“ Nein, ich meine: „Ich liebe Dich.“ Hat das Dein/e Pfarrer/in schon mal zu Dir gesagt?
Mir geht es nicht darum, Dich mit Deinem/r Pfarrer/in zu verkuppeln, Pfarrerpersonen zu kritisieren oder Dich daran zu erinnern, dass Du gar keine/n Pfarrer/in hast. Mir geht es nur darum, aufzuzeigen, dass auch Menschen die sich theoretisch sehr tief mit der Liebe auseinandergesetzt haben, z.B. in Form der biblischen Lehre, auch „nur“ Menschen sind. Und genau darin liegt der Zauber unseres Menschseins. Wir sind liebende Wesen. Und, egal was nun in der Bibel steht und wie sehr Gott seine Finger im Spiel hat, wir leben unter Menschen, reden mit Menschen, berühren Menschen (ja, und natürlich auch Tiere und Pflanzen, die seien hier trotzdem erwähnt). Was ich damit sagen will: Ja, der Glaube an einen Gott, der uns liebt, hilft uns durch dunkle Stunden. Bei mir war und ist das so. Aber wenn sich dieser Gott mit seiner Liebe nicht durch die lebendigen Menschen um uns herum zeigt, dann ist eben doch die Gefahr groß, dass bald ein weiteres Lichtlein auf dem Friedhof brennt für jemanden, dessen Zeit eigentlich noch nicht gekommen war.
Wenn es um menschliches Zusammenleben geht, geht es immer um Kommunikation. Und dabei belasse ich es jetzt als Stichwort und führe keine wissenschaftlichen Definitionen an. Ich habe u.a. Kommunikationswissenschaft studiert und Leute, die das brauchen, um mir zu glauben, können gern meinen Lebenslauf und meine wissenschaftlichen Bücher lesen, um sich von meinem Wissen zu dem Feld zu überzeugen. Für diese paar Seiten hier bedeutet Kommunikation einfach, dass wir Menschen Signale empfangen und Signale senden. Das machen wir mit allem, was wir sind — unseren Worten, unseren Gesten, unserer Körperenergie, ja, unserem ganzen SEIN. Wir kommunizieren ständig und ohne Pause. Und je reflektierter wir sind, desto mehr denken wir über diese Kommunikation nach und interpretieren Signale aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Das Ende vom Lied ist dann, dass wir weder der Welt noch uns selbst etwas glauben — schon gar nicht die Liebe. Als Überlebende der Magersucht weiß ich, wovon ich rede. Aber ich stehe damit nur als Beispiel für die 28% Deutscher, die jährlich psychisch erkranken. Sie alle verbindet, dass sie eines verloren haben: Den Glauben an sich selbst. Sie vertrauen sich nicht. Und sie vertrauen sich auch nicht, wenn es darum geht, die Zeichen anderer zu „verstehen.“ Paradoxerweise verstehen sie all das sehr gut und sie spüren auch noch viel mehr als andere. Aber ihre Intelligenz, ihr Wissen und eben ihre Erkrankung machen es unmöglich, ihrem „Bauchgefühl“ zu folgen und einfach nur zu „glauben“, was sie hören/sehen/spüren. Genau an dieser Stelle wird es so schwierig und geradezu tragisch mit der Liebe. „Sie/er weiß doch, dass ich sie/ihn liebe. Ich brauche das nicht zu sagen.“ Ja, genau, das reicht eben NICHT.
Der Satz „ich liebe Dich“ kostet Mut. Er ist der größte Satz, den ein Mensch einem anderen sagen kann. Davon bin ich überzeugt. Es macht nichts, wenn Du, liebe/r Leserin, von anderen Dingen und Sätzen überzeugt bist. Mir geht es hier nicht ums Streiten. Es ist völlig ok. Jeder darf an alles glauben, wenn es ihn/sie glücklich macht und liebender. Ich will nur darstellen, woran ich glaube. Und in der Kirche einmal die Woche das Glaubensbekenntnis auf zu sagen, ist eben doch etwas anderes, als sich eine Minute danach der Freundin oder Partnerin oder Mutter zuzuwenden und zu sagen: „Ich liebe Dich.“ Warum ist das so schwer?
Meine Antwort ist ganz einfach: Weil wir uns selbst nur in sehr seltenen Fällen und erste am Ende eines langen Prozesses, oft des ganzen Lebens, so sehr selbst lieben, dass wir das wirklich so sagen können, ohne etwas zu erwarten, ohne Angst, ohne emotionale Abhängigkeit. Genau dafür sind Krankheiten und Schicksalsschläge so ein Geschenk. Sie schicken uns ungebremst auf diese Reise — ob wir wollen oder nicht. Unser Überlebenstrieb sagt uns, dass es nur diesen Weg gibt, um gesund zu werden. Wir müssen unsere selbst gebaute Festung verlassen, unser Zelt. Wir müssen hinabsteigen in die tiefsten Täler in uns selbst, um die Liebe in uns und zu uns wieder zu entdecken — zu SPÜREN.
Wenn man das dann geschafft hat, dann passiert das, was die Buddhisten den Verlust des Egos nennen. In der Bibel finden wir das auch u.a. in Johannes mit den „Ich bin“ Worten. Ein Mensch, der nur IST, hat sein Ego insofern verloren, als er ziellos ist. Damit meine ich, dass er nichts mehr WILL. Er will nicht glänzen, überzeugen, sich tot arbeiten, Geld verdienen, gut aussehen, seiner großen Liebe etwas vormachen… Er IST einfach nur DA. Seine Präsenz ist genug. Und vor allem hat dieser Mensch eines nicht, was jeder andere von uns vor dem Durchschreiten der ganzen Täler und dem Finden der wahren Liebe noch hat: Angst. Damit meine ich die Angst, dass wir verletzt werden — im physischen und im psychischen Sinne. Verletzt werden können wir nur, weil wir soziale Wesen sind und uns nach Liebe und Wärme sehnen. Das ist einprogrammiert in uns. Und wenn uns jemand verletzt mit Worten und Taten, dann ist das die Botschaft: „Du wirst nicht geliebt.“ Davor genau haben wir Angst, wenn wir NICHT „Ich liebe Dich“ sagen — vor der negativen Reaktion des Gegenübers. Und genau da kommt die Selbstliebe ins Spiel — die bedingungslose nämlich.
Mit dem „Überleben“ von Krankheit, Verlusten und sonstigen Schicksalsschlägen lernen wir Stück für Stück, dass es, um es sehr kurz zu machen, keinen anderen Menschen gibt, mit dem wir gern durch die Welt gehen wollen. Das klingt erst mal paradox, ist aber so. Wir lernen, dass WIR dieser Mensch sind, den wir so lieben. Ohne diesen Menschen, wären wir nicht mehr da. Und dieser Mensch ist großartig, wie er ist. Er ist immer da, sofern wir wirklich „bei uns“ sind. Genau dieser Mensch hat durch den eigenen langen Heilungsweg etwas geschafft, wovor viele weglaufen. Er hat die reine Liebe in sich entdeckt. Und für die, die glauben, ist das göttliche Liebe. Das ist großartig. Das ist überwältigend. Das ist so groß, dass man sich danach nicht mehr umbringt — ob nun mit Sucht oder auf andere Art.
Nun bleibt trotzdem das „Problem“, dass wir Menschen aus Fleisch und Blut gemacht sind. Und damit haben wir Bedürfnisse, die mit Kontakt zu tun haben. Eine Hand, die uns streichelt, berührt mehr als nur die Haut. Sie berührt unsere Seele, weil sie Liebe „macht.“ Ein Mensch, mit dem wir schlafen, den wir „in uns“ spüren (damit meine ich nicht nur Heterosex), tut das gleiche, jedenfalls wenn das mit Liebe verbunden ist. Ein Mensch, der neben uns auf der Couch sitzt und uns einfach nur hält, IST LIEBE. Und das tut uns gut. Wir „brauchen“ es zwar auf den ersten Blick nicht, um zu überleben. Denn dafür reicht Essen und Trinken. Gerade der Fall der Magersucht zeigt aber, wie eng beides zusammen gehört.
Und auch danach, wenn wir einen so bewussten Zustand erreicht haben wie ihn so mancher Erwachte wie Buddha und Co. haben, bleiben wir Menschen mit Bedürfnissen, die nicht allein durch göttliche Liebe gestillt werden können. Es kommen immer wieder Zweifel und Ängste und Herausforderungen. Wir begegnen diesen dann gestärkter. Wir haben gelernt, dass wir andere nicht mehr im abhängigen Sinne brauchen. Aber wir WOLLEN sie in unserem Leben, um es zu genießen — um jeden Tag in Fülle zu leben. Und was machen diese Menschen eben oft NICHT, trotz all der anderen Dinge, die sie vielleicht tun und denken und meinen und vermuten? Sie sagen nicht: „Ich liebe Dich.“
Damit ist auch schon alles gesagt, was ich sagen wollte, bevor es ans Machen geht. Meine Sätze hier, mein SAGEN, sollen Dir dabei helfen, der liebende und geliebte Mensch zu sein, der Du wirklich sein willst. Ein Großteil dessen, warum wir nämlich täglich nicht so glücklich aufstehen, wie wir sein wollen, ist, dass wir Dinge unterlassen. Man bereut am Ende des Lebens oft das, was man nicht getan hat. Das ist eine alte Weisheit für all jene, die mit Sterbenden zu tun hatten und haben. Und an den Tod zu denken, hilft bekanntlich oft. Wie oft gehen wir ins Bett mit dem „schlechten“ Gewissen, dass wir doch eigentlich xy dieses und jenes sagen wollten? Und damit meine ich nicht, böse Worte. Ich meine, etwas Liebes. Und auch wenn es nichts Liebes gewesen wäre: Allein die Tatsache, dass man sich mit einem Menschen beschäftigt, bedeutet, ihm Lebenszeit zu schenken.
Mit diesen Zeilen ist meine Abkürzung zur Bibel auch schon vorbei. Tut mir leid, wenn Du jetzt einen Katalog von Hausaufgaben erwartet hast. Die gibt es nicht. Meine Worte hier sind schon alles. Ich habe Dir, liebe/r Leser/in damit gesagt, dass ich Dich liebe. Sonst würde ich meine Lebenszeit gar nicht damit vertun, diese Zeilen hier für Dich zu tippen und mein Herz damit zu öffnen. Meine Worte hier sind Intervention, die Dich auf die Reise schicken können. Die ist ganz einfach am Ende, aber am Anfang ganz hart. Am Ende steht der Satz: „Ich liebe Dich.“ Den kannst Du sagen, sofern Du noch eine Stimme hast. Du kannst ihn sogar verkürzen und in anderen Sprachen sagen. Das ist völlig egal. Du weißt, wie es geht. Du weißt auch, wem Du sie sagen willst, ungeachtet der Konsequenzen. Du erwartest am Ende kein „Ich liebe Dich zurück.“ Du willst Deine Liebe GEBEN. Damit bist Du liebenswert und wirst auch Liebe empfangen. Das ist die Paradoxität, die manche Gott nennen.
Der schwierige Teil ist, dahin zu kommen. Dafür will ich Dir Mut machen. Es lohnt sich. Wie Du nach meiner Vorrede zu den Suiziden und psychischen Erkrankungen oben weißt, rettest Du damit Leben. Dazu musst Du weder Pfarrer/in noch Therapeut/in werden. Das sind alles nur „Mittelsmänner“. Du allein kannst machen, dass es davon weniger braucht oder die wenigen für mehr Menschen da sein können. Du allein findest Deinen eigenen Glaubensweg. Du allein kennst Deine tiefen Wunden, zu denen Du herabsteigen und die Du loslassen darfst. Du allein kennst Deine Konflikte, die Du bisher nicht lösen konntest, weil Du Angst hast. Psychische Probleme und Blockaden löst man „einfach“: Man stellt sich der Angst. Man geht durch sie hindurch. Man sagt Dinge, vor denen man vorher Angst hatte. Sobald man es einmal gemacht hat und spürt, wie schön das ist, fühlt man sich neu und hat den Mut, den nächsten Schritt zu gehen.
Du kannst werden, wer Du wirklich bist — ein liebender und geliebter Mensch. Fang damit an. Sage, was in Dir ist. Die Zeit ist JETZT. Das Neue Jahr lädt Dich ein.
[1] An dieser Stelle ist es mir wichtig klar zu stellen, dass es nicht um Schuld geht. Weder Angehörige noch Freunde eines Menschen sind „schuld“ daran, wenn sich dieser umbringt. Er/sie ist dafür in letzter Konsequenz allein verantwortlich. Der nachfolgende Text will daher auch nicht behaupten, dass Suizide durch „Liebe sagen“ verhindert werden können. Es gibt sicherlich Eltern, Ehepartner/innen oder Freunde von lebensmüden Menschen, die ihre Liebe und Zuneigung offen kommunizieren und den Suizid damit nicht „verhindern“ können. Trotzdem ist meine eigene Erfahrung und meine Erkenntnis aus der langen Beschäftigung mit bestimmten psychischen Erkrankungen, dass das Gefühl der Einsamkeit, der Minderwertigkeit und des Alleinseins durch die offene verbale Äußerung von Emotionen durch Nahestehende zumindest zeitweise gemildert werden kann. Dies ist subjektiv und erfahrungsbasiert und erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Insbesondere spielen hier auch Aspekte von Alter, sozialem Status, Bildungsgrad und kulturellem Hintergrund eine Rolle. Dieser Text will zum Reflektieren und Handeln anregen. Es liegt am Leser/an der Leserin selbst, etwas darin für das eigene Leben mit zu nehmen oder eben nicht.
About Silke
Dr. Silke Schmidt ist ausgebildete Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Coach. Sie ist spezialisiert auf Bibliotherapie und hat die Methode der “Literaturbasierten Selbsterfahrung” (LBSE) entwickelt. Sie hilft Klient/innen mittels der transformierenden Kraft des Lesens und Schreibens, persönliche und berufliche Schwierigkeiten zu bewältigen, Selbstliebe zu stärken und ihr kreatives Potenzial zu entfalten.