# 507: BOOK OF THE WEEK — “Erika”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Dieses Buch war ein Weihnachtsgeschenk gestern Abend. Es ist ein kleines unscheinbares Büchlein, das es in sich hat. Es hat so viel Schönes in sich, dass man sich wundert, wie das auf so wenige Seiten passen kann. Noch gestern Abend habe ich angefangen, die ersten Seiten zu lesen. Heute dann habe ich es größtenteils laut vorgelesen, als ich mit meiner Mutter die Pute im Ofen bewachte. Das laute Vorlesen ist etwas, das wir oft unter dem Thema „Eltern und Kinder“ abspeichern. Ich habe es schon immer auch als Erwachsene als etwas sehr Schönes und Besonderes empfunden. Es wundert wohl nicht, dass die Menschen, die ich im Leben je lieben durfte, auch viel mit Literatur anfangen konnten. Vorlesen hat etwas sehr Intimes, finde ich zumindest. Und nun ergibt es sich auch manchmal, dass nicht die Mutter wie in Kindertagen ihrer Tochter vorliest, sondern umgekehrt, wobei Ersteres auch heute noch ab und an vorkommt. Das Lesen habe ich eindeutig von ihr „geerbt“. Dafür bin ich dankbar.
Nun geht es aber in der Geschichte selbst nur am Rande um Mütter. Vielmehr geht es um Erika. Erika ist ein Schwein aus Plüsch — ein überdimensional großes Schwein, das die Erzählerin ungeplant am Vorweihnachtstag für einen sündhaft hohen Preis im KaDeWe erwirbt. Von diesem Moment an lässt sie Erika nicht mehr los; in innerlicher und äußerlicher Hinsicht. Erika darf sogar erster Klasse fliegen und macht Pfarrer/innen mit ihrem Wesen Konkurrenz. Für jemanden wie mich mit Plüschtier-Fimmel ist diese Geschichte natürlich besonders anrührend — gerade weil ich derjenigen, die mir das Buch geschenkt hat, auch erneut ein Plüschtier geschenkt habe (wenn auch um Welten kleiner als Erika). Doch in Wahrheit ist Erika natürlich mehr als „nur“ ein Plüschtier — sie ist eine Metapher für ein Wesen, das andere wundersam verzaubern kann, auch wenn sie weder „richtiger“ Mensch noch „richtiges“ Tier ist.
Wie oft wünschen wir uns als Menschen, dass wir auch Wunder bewirken können?
Wie oft werden wir enttäuscht?
Erika jedenfalls lehrt den Sinn des Lebens.
- Anwesenheit
Die Erzählerin, die eigentlich Elisabeth heißt, aber alle möglichen anderen Rufnamen hat, wird von ihrem Ex Franz zu Weihnachten nach Lugano eingeladen. Das ist die Story. Franz und sie verbindet eine Liebe, die irgendwie keine mehr ist, aber irgendwie auch schon. Jedenfalls freut sich Betty über die Einladung, aber so richtig glücklich ist sie erst, als sie Erika im Arm hält. Doch Erika bereitet nicht nur Betty Glück. Nein, schnell stellt sie fest, dass Erika es vermag, die ganze Welt um sie herum glücklich zu machen. Allein der Anblick einer erwachsenen Frau mit einem überdimensionierten Plüschschwein lässt die Herzen höher schlagen.
Diese vielen Schilderungen der Begegnungen mit Menschen, die Erika in den meisten Fällen auch direkt berühren wollen, sagen viel über das Menschsein an sich aus. Alle wissen, dass Erika kein „echtes“ Schwein ist. Trotzdem möchten sie sie „streicheln“. Sie möchten spüren, wie sie sich anfühlt. Sie wollen auch eine Scheibe vom Glück ab haben, das Betty da in ihren Händen hält. Und diese Erfahrung an sich, der Umgang der anderen mit Erika, macht die Erzählerin glücklich, aber eben auch vorsichtig. Denn schließlich ist Erika nun „ihr“ Schwein und sie will sie um keinen Preis mehr aus der Hand geben.
Natürlich ist diese Passage mit Bezug auf die „Prediger“ an Weihnachten besonders witzig. Überhaupt enthält diese Geschichte so viele Dinge, die sehr viel mit mir zu tun haben (und damit meine ich nicht, dass ich ein Schwein habe oder eines bin, wobei ich mir natürlich als Erinnerung an diese Lektüre eines meiner Stofftiersammlung hinzufügen werde…). Auch ich mache mich gerne über „Prediger/innen/Pfarrerinnen“ lustig. Nein, das ist das falsche Wort. Ich “necke” sie einfach, da viele von ihnen Menschen nicht berühren können. Das ist meine Erfahrung und die ist subjektiv, aber sie ist eben so. Und da ist es natürlich besonders lustig, wenn ausgerechnet ein Plüschschwein in der Lage ist, die Verzauberung des Jesus-Kindes in einer Weise in die Welt zu bringen, wie es studierte Theolog/innen nicht können.
Überhaupt habe ich dieses Jahr viel über die Weihnachtsgeschichte nachgedacht, allerdings sehr oberflächlich. Damit meine ich, dass ich ihr überhaupt nicht mehr gelauscht habe. Ich war erst in einem Gottesdienst mit Krippenspiel, am späten Abend in einer Gospel-Mette und heute wieder in einem deutsch-englisch-sprachigen Gottesdienst. In allen dreien wurden natürlich Passagen aus der Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Und alle Male habe ich mich dabei ertappt, wie ich bereits nach den ersten Sätzen ausgestiegen bin. Meine Gedanken waren plötzlich komplett woanders. Sie waren aber noch immer irgendwie mit der Weihnachtsgeschichte verwoben. Ich habe mich einfach gefragt, wie es für die Pfarrer/innen sein muss, die die Story Jahr ein Jahr aus mit oder ohne Kinder im Krippenspiel „herunterbeten“ müssen.
Natürlich ist jedes Jahr anders. Natürlich ist jedes Jahr auch im Leben von Pfarrer/innen anders. Natürlich denken sie immer wieder neu über die Geschichte nach. Aber ganz ehrlich: Wie soll man denn nach 30 Jahren noch in der Lage sein, die Weihnachtsgeschichte mit einer Inbrunst und Begeisterung vorzutragen und auszulegen, wie Erika es mit ihrer reinen Schweinenatur vermag? Ja, einigen gelingt das sicher. Mir würde das nicht gelingen — noch nicht mal in Jahr 2. Und ich fühle mit jedem/r Pfarrer/in, die sich das jedes Jahr wieder gibt. Ja, ich weiß, Augen auf bei der Berufswahl. Jede/r muss wissen, was er/sie sich einbrockt. Trotzdem tat mir gerade ein Pfarrer gestern besonders leid. Er war geradezu geistesabwesend und ich konnte es verstehen — ging mir ja genauso.
Wunder sind eben Wunder, weil wir nicht mit ihnen „rechnen“. Das heißt, wir kennen die Story noch nicht, die auf uns wartet. Bei der Weihnachtsgeschichte und dem Jesuskind ist das leider anders. Bei Erika brauchen wir erst gar keine Story. Sie ist einfach da und macht Freude. Und das ist schon ein Wunder, finde ich. Damit meine ich nicht nur Plüschtier-Dasein. Ich meine, dass es für mich immer wieder ein Wunder ist, wenn ein Mensch einfach da ist und mich verzaubert. Und natürlich finde ich es auch beglückend, wenn das andere Menschen in meiner Anwesenheit empfinden. Das Wunder daran ist ja, dass man das selbst nicht merkt. Man kann sich zwar selbst immer besser verstehen und auch schätzen, aber so richtig „fühlen“ kann man die eigene Präsenz ja nicht wie es ein Gegenüber kann.
Vielleicht sind wir alle ein bisschen Erika.
Vielleicht wollen wir es auch nur sein.
Auf jeden Fall können Pfarrer/innen sich bestimmt eine „Scheibe“ von Erika abschneiden — natürlich nur im übertragenen Sinne, versteht sich, und auch Vegetarier…
2. Nähe
Betty und Franz sind schon eine besondere Mischung. Gerade beim Auftakt des Buches, als Franz sie telefonisch einlädt, lernt man die beiden kennen. Es ist vor allen Dingen ihr Humor, der sie verbindet. Sie sind auf eine Weise ironisch bzw. sarkastisch miteinander, die sicher viele gar nicht abkönnen. Es ist der typische Humor, der sich durch Heidenreichs Bücher zieht. Ich habe zwar lange kein Heidenreich-Buch mehr gelesen. Aber in diesen Passagen, in denen sich Betty und Franz erzählen, wie wenig sie sich sehen wollen, um sich dann doch sehen zu wollen, hörte ich förmlich Heidenreichs Stimme durch den Text. Doch letztlich reichte der Humor nicht, damit Betty und Franz in Liebe beieinander bleiben konnten. Klar, dass der/die Leser/in anfangs die Hoffnung hegt, daran könnte sich wieder etwas ändern.
Diese Passage über Nähe und Angst hat mich natürlich bewegt. Das ist so. Oft sind es die Menschen, die wir so inniglich kennen, die uns Angst machen. Damit meine ich nicht gewalttätige Partner/innen, die uns wirklich physisch bedrohen oder psychisch verletzen. Nein, ich meine einfach diese Angst, die sich entwickeln kann, wenn man einem Menschen wirklich nah ist und gleichzeitig weiß, dass das gleiche auch umgekehrt gilt. Nähe bedeutet immer auch Schutzlosigkeit. In der Liebe möchte man das eigentlich, denn sonst ist man eben nicht „vereint.“ Doch manche von uns bekommen es nicht hin.
Auch Erika kann daran nichts ändern, wie die Geschichte im weiteren Verlauf zeigt.
Aber trösten kann Erika zumindest, und Schutz bieten,
das ist schon eine ganze Menge.
3. Zurücklassen
Die ganze Geschichte hindurch weiß man als Leser/in nicht, ob Erika nun wirklich zum Geschenk für Franz wird oder nicht. Das ändert sich zumindest als klar wird, dass Franz wirklich der Vergangenheit angehört. Betty fährt vorbei. Sie steigt nicht aus, als sie in Lugano am Bahnhof ankommt und Franz auf sie wartet. Erika gibt ihr die Kraft dazu. Erika macht Betty klar, dass sie nur gekommen ist, weil sie „allein“ ist/war. Gleiches gilt für Franz. Das Treffen war von zwei einsamen Seelen geplant. Erika hat das Alleinsein von Betty verändert. Plötzlich ist sie in der Lage, Franz weh zu tun, indem sie ihn stehen lässt. Natürlich ist das nicht der Untergang der Welt, denn schließlich sind beide schon lange getrennt. Praktisch kann man sich aber vorstellen, dass das ein wichtiger Schritt ist, wenn man extra wegen Franz zwei Flüge, eine Bus- und eine Bahnfahrt in die Schweiz in Kauf genommen hat.
Mir sind solche Momente vertraut. Ich bin schon manches Mal irgendwohin aufgebrochen, auch weit weg, um ein vermeintliches Ziel dort zu erreichen. Auf dem Weg wurde mir klar, dass ich dahin gar nicht wollte oder zumindest nicht mehr will. Und dann kostet es noch einen irren Moment des Mutes, sich das wirklich einzugestehen und dann den „Bahnhof“, im übertragenen Sinne, an sich vorbeirauschen zu lassen. Gerade in diesem Jahr haben sich derartige Momente oft ergeben in meinem Leben. Sie sind immer mit einer wunderbaren Klarheit über das eigene Sein verbunden. Auch aktuell gibt es in meinem Leben noch einen Bahnhof, bei dem ich doch nicht mehr aussteigen werde. Doch es hat lange gebraucht, heraus zu finden, dass ich dort nie wirklich hin wollte.
Mein Franz war die Angst vor meinen Stärken.
Sie hat mich von mir weggebracht.
Trotzdem habe ich unterwegs auch sehr schöne Orte gesehen.
Nur hatte ich keine Erika dabei.
Bestimmt kommt noch eine.
Die Erzählerin endet schließlich an einem Ort, wo sie nie hinwollte. Sie steigt in Bellinzona aus. Schließlich findet sie einen Koch in einer eigentlich geschlossenen Pension. Sie genießt ein wunderbares Weihnachtsessen und viel Alkohol. Und natürlich ist Erika bei allem dabei. Der Koch, der ihr während des geselligen Abends sein Herz ausschüttet, hatte natürlich nur die Tür geöffnet, weil Erika dabei war. Er hatte sich auch direkt in sie verguckt. Und schließlich endet seine Nacht auf dem Küchentisch — mit Erika im Arm, eng umschlungen, seine Tränen über die verschüttete Ehe aufsaugend. Diese rührende Szene ist es schließlich, die den Schluss bildet. Betty lässt Erika zurück. Es fällt ihr leicht. Was zuvor unvorstellbar war, Erika jemand anders zu überlassen, ist nun ganz einfach.
Als ich die Geschichte heute Nachmittag fertig las, war sie mir sehr vertraut. Doch erst jetzt, wo ich sie noch einmal schreibend reflektiere, werden mir die Dinge so richtig klar. Ich weiß nicht, ob es der Schenkenden bewusst war, als sie dieses Buch aussuchte. Aber auch ich habe bis vor Kurzem noch eine riesige Erika mit mir herum getragen. Das war nicht die einzige dieses Jahr. Ich habe viele Dinge und Menschen hinter mir gelassen — sie losgelassen. Doch eine Erika war bis zuletzt trotzdem noch dabei. Und vielleicht schreibe ich hier verfrüht in der Vergangenheitsform. Vielleicht ist mir erst durch dieses Buch so richtig klar geworden, dass ich diese Erika noch immer fest in den Armen halte. Und daher ist der Fall auch klar. Wer sich irgendwann selbst zu trösten vermag, kann Erika in Leichtigkeit zurücklassen.
Trotzdem ist es schön, von einem rosa Plüschschwein das Glück gelehrt zu bekommen.
Ob “Glück” der Sinn des Lebens ist, verrät Erika nicht.
Aber das Aussteigen an zuvor „angepeilten“ Stationen ist es offensichtlich nicht.
Auch kann man Vergangene(s) nicht mehr aufleben lassen.
Da bleibt nur, von Herzen „adieu“ zu sagen…
Dank an BK für diese wunderschöne Lektüre, die mich immer an Weihnachten 2023 zurückdenken lassen wird.
Reflexionsfragen
1) Könntest Du Dir vorstellen, Pfarrerin zu sein und jedes Jahr an Weihnachten wieder die gleiche Geschichte „neu/anders“ auszulegen? Warum/nicht?
2) Meinst Du, dass Angst zur Liebe dazugehört? Warum/nicht?
3) Schleppst Du auch eine Erika mit Dir herum? Was müsste geschehen, damit Du sie zurücklässt?