# 502: BOOK OF THE WEEK — “Von Asklepius und Melampus: Heilkult und Heilkunst der Antike“

Silke Schmidt - gottunddiewelt
7 min readNov 23, 2023

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Lang, Christina (2022). Von Asklepius und Melampus: Heilkult und Heilkunst der Antike — Griechische und römische Mythen.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Dieses Buch hat es aufgrund meines neu entfachten Interesses am Altgriechischen zu mir geschafft. Wohin das genau führt, weiß kein Mensch. Aber zumindest hat sich mal wieder bestätigt, dass Menschen, die von etwas begeistert sind, auch andere Menschen damit anstecken können. Ob das jetzt von Dauer ist oder „nur“ bis zur Prüfung hält, weiß ich nicht. Zudem ist es auch noch ein großes Fragezeichen, ob ich die Prüfung schaffe. Aber witzigerweise steht das gar nicht mehr im Vordergrund. Und das ist sehr schön. Denn ich interessiere mich mittlerweile wirklich für die Gedankenwelt hinter den Buchstaben. Und ich interessiere mich natürlich für das Heilen.

In diesem Buch kommen beide Komponenten zusammen. Ich muss zugeben, dass mich die griechischen Mythen mitunter nur sehr bedingt in den Bann ziehen. Immer geht es um irgendwelche Schiffe, Feldzüge zur See und Kämpfe mit Speeren und sonstigen Waffen. Ach ja, und natürlich sind da noch die Götter, die irgendwie immer ihre Hände im Spiel haben, weil die meisten Geschichten sich ja eh um sie ranken. Leider kann ich mir dann am Ende trotzdem meist die Namen der Götter und ihre Taten nicht im Detail merken. Aber solange ich das ein oder andere in den Geschichten entdecke, was mir einen Einblick in die damalige Zeit gibt, gibt mir das was.

Das Buch dreht sich zwar ums „Heilen“, aber der Begriff ist wirklich weit gefasst. Natürlich kommt der berühmte Asklepius darin vor, der so mancher Klinikkette heutzutage seinen Namen geschenkt hat. Und Heilkunst meinte damals eben sehr unterschiedliche Dinge. Da wurden Menschen Pfeile wieder aus dem Fleisch gezogen, um dann die Wunde mit Kräutern zu versorgen. Oder es wurden irgendwelche heiligen Säfte gepanscht, um die Eroberer von ihren Leiden zu erlösen. Irgendwie lernt man so oder so etwas über die Entstehung der Heilkunst in der damaligen Zeit. Wichtig dabei bleibt zu erinnern, dass letztlich ALLES in der Welt dem Willen der Götter unterlag — auch Krankheiten.

Und wenn man genau überlegt, dann hat sich ein bisschen was davon noch heute erhalten. Denn egal, wie atheistisch wir heute unterwegs sind: Wer von uns verflucht nicht das „Schicksal“ oder eben „Gott“, wenn uns eine Diagnose offenbart wird, die womöglich sogar unseren Tod ankündigt? Und gleichsam verwundert sind wir und danken Gott, obwohl wir vorher gar nicht an ihn glaubten, wenn uns ein medizinisches Wunder widerfährt — ein Erwachen nach langem Koma, die Heilung einer schweren Krankheit. Irgendwie sind Krankheit und natürlich Tod also noch immer mit dem Thema Gott verbunden. Davon gab es eben in der Antike mehr als nur einen, aber der Glaube an die Allmacht in einer oder mehreren Personen bleibt als roter Faden bestehen.

  1. Emotionen
Lang 39

Von dieser Geschichte erinnere ich nur noch, dass es um Philoktet ging. Und der wurde ganz übel von Odysseus behandelt, als sie ihn nämlich unterwegs auf dem Weg nach Troja auf einer Insel aussetzten. Irgendwann wird er hier also von Neoptolemos gefunden. Die Handlung danach erinnere ich auch nicht mehr. Aber ich weiß genau, warum ich die Stelle angestrichen und ausgewählt habe — wegen der Emotionalität nämlich. Und wenn man meiner Griechisch-Dozentin glaubt, was ich diesmal wirklich tue, dann hatten die Griechen viel mehr Emotionen in der Sprache, um ihren individuellen Gemütszustand auszudrücken.

Damit verbunden ist auch eine einfache Erkenntnis dieser Woche für mich. Sie ist mir so richtig im Kino vorgestern klar geworden. Wenn man mich fragt, warum ich schreibe, dann gibt es dafür meist keine Antwort. Es sei denn, ich schreibe für einen konkreten Auftrag, was natürlich oft passiert. Aber auch dann könnte es ja jemand anders machen. Die tiefer liegende Antwort, warum ich also schreibe und nicht Häuser baue oder Computerprogramme codiere, ist, dass ich Menschen berühren will mit den Worten, die ich fabriziere. Das klingt platt, ist aber so. Und anders ausgedrückt — und das ist mir erst so richtig klar geworden — steht dahinter die Idee, dass Emotionalität etwas „Gutes“ ist, wovon die Welt besser mehr als weniger gebrauchen kann.

Natürlich sind Emotionen erst mal wertfrei. Es gibt „gute“ und „schlechte“ — es gibt Glück und Traurigkeit. Mir ist das aber im Prinzip erst mal egal. Mir ist wichtig, dass die Menschen überhaupt fühlen und das ab und an auch ausdrücken. Man mag meinen, das ist total überflüssig, denn Menschen fühlen automatisch und immer. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Jeder, der sich mal wirklich fragt, ob er jede Minute seines Lebens wirklich fühlt, wird schnell zu der Antwort gelangen, dass es eigentlich umgekehrt ist: wir sind die meiste Zeit damit beschäftigt, eben nicht zu fühlen. Das wird uns oftmals von anderen eingebläut. Oder wir entwickeln diesen Schutzmechanismus ganz von allein, denn das dauernde Fühlen überfordert auch ganz schnell, auch wenn es zutiefst menschlich ist. Dann lassen wir es besser bleiben — wir verlernen das.

Wir verlernen das Menschsein…

Genau deshalb fand ich es so erstaunlich, als ich zum ersten Mal davon hörte, wie differenziert die Griechen in ihrer Sprache Emotionen ausdrücken konnten und offensichtlich auch wollten. Und diese Passage hier ist auch zusätzlich ergreifend, weil hier ein Mann, ein starker Krieger, so emotional berührt gezeichnet wird. Ich denke, wenn man diese Texte in sich aufsaugt und tiefer in die Welt der Griechen eintaucht, dann bekommt man wirklich ein ganz anderes Verständnis von der damaligen Welt. Und vielleicht bekommt man sogar ein anderes Verständnis von damaligen Geschlechterrollen. Und wenn das alles passiert, dann denkt man auch automatisch anders über das Hier und Jetzt nach.

Und das ist wunderbar und aufregend!

2. Zurückgelassen

Lang 58

Auch hier fließen wieder Tränen von einem Mann. Das ist aber nicht der Grund, warum ich die Stelle spannend fand. Vielmehr ging es mir wirklich um den Gedanken, wie es ist, wenn man sein Kind 20 Jahre nicht sieht. Das ist zwar ganz und gar selten, aber es kommt eben auch in unserer Welt ab und an noch vor. Gerade vor einigen Wochen sprach ich noch mit migrantischen Arbeitskräften im Libanon, die ihre Kinder im Heimatland zurückgelassen haben. Sie sehen diese oft viele Jahre maximal per Video-Call. Das ist zwar nicht “gar nicht sehen”, aber es ist eben auch eine Form von „zurücklassen“.

Abseits der Tragik von solchen Geschichten hat mich die Frage gepackt, wie es wäre, wenn uns das allen so gehen würde im Leben. Wenn wir wichtige Menschen, geliebte Menschen, einfach für Jahrzehnte nicht sehen würden und dann wiederträfen; wenn das ganz normal wäre. Würde uns das nicht auch viel Leid ersparen, das manchmal mit unserer eigenen Entwicklung zu tun hat? Und würde es uns nicht auch einen ganz anderen Spiegel vor das Gesicht halten? Wir merken doch manchmal gar nicht, wie sehr wir uns entwickeln, sofern wir mit den gleichen Leuten kontinuierlich zusammen sind. Wirkliche „Aha-Momente“ erleben wir doch immer erst, wenn wir Menschen nach langer Zeit wieder begegnen. Dann erfahren wir auch uns selbst noch einmal anders.

Mir ist das Thema Veränderung und „anderer Mensch“ werden dieses Jahr natürlich sehr eindrücklich präsent geworden. Es gibt Jahre, da verändern wir uns innerlich und äußerlich so rasant wie zuvor zehn Jahre nicht. Aber vielleicht ist es auch ganz anders. Vielleicht haben wir uns gar nicht so sehr verändert und sehen uns einfach nur ganz anders? Oder vielleicht haben wir uns schon lange Zeit sehr verändert und es ist uns einfach bis heute nicht aufgefallen? Was auch immer es ist: Es muss für Odysseus ein Wunder gewesen sein, seinen Sohn in voller Pracht nach so langer Zeit wieder zu sehen. Und ich wünsche jedem, dem das über lange Zeit nicht möglich ist, dass dieser Moment bald oder überhaupt in diesem Leben noch einmal kommt.

3. Die Welt als Ganzes

Lang n.p.

Hesiod kommt in der Mitte des Buches vor. Da geht es schon bald um die Römer. Und da war es mit meiner griechischen attention span dann doch nicht mehr so gut bestellt. Aber was mich an dieser Einführung hat aufhorchen lassen, ist dieses Bemühen, die Welt als „geordnetes Ganzes“ zu begreifen. Wir bekommen ja täglich suggeriert, dass alles Chaos ist, nichts geordnet, und man deshalb schon gar nicht versuchen sollte, die Welt als Ganzes zu erfassen. Zudem wird alles immer „komplexer“, wie es so schön heißt. Auch das fordert implizit dazu auf, das Bemühen um ganzeitliches Verstehen vollends einzustellen.

Ich glaube, es geht auch anders.

Wie bei den Griechen, zum Beispiel.

Für sie waren Götter und Welt,

Chaos und Frieden,

noch immer EINS.

Und letztlich glaube ich selbst, und das meine ich jetzt ganz ernst, dass es durchaus auch heute noch möglich ist, die Welt als Ganzes zu verstehen. Das heißt nicht, dass einem das auch gelingt. Aber es hat auch viel mit Glauben zu tun. Denn letztlich vertraut, wer auf einen Gott und/oder die Naturgesetze setzt (beides geht auch zusammen), dass alles irgendwie miteinander verbunden ist. Und folglich kann der berühmte Schmetterlingsschlag am einen Ende der Welt auch am anderen Ende einen Tornado auslösen. Egal, ob das jetzt physikalisch nachweisbar ist oder nicht. Wir wissen um diese verrückten Abhängigkeiten, auch wenn sie uns manchmal Angst machen.

Und genau da sind wir wieder beim Götterglauben, der für die Griechen so normal war.

Vielleicht sollten wir ab und an einfach auch ein bisschen Griechisch sein.

Und vielleicht wären wir dann auch kreativer, emotionaler und ein bisschen „heiler“ — ganz ohne Pillen…

Reflexionsfragen

1) Würdest Du sagen, dass eine Sprache etwas über die Emotionalität eines Landes/einer Kultur aussagt? Warum und welche Beispiele fallen Dir ein?

2) Kannst Du Dir vorstellen, dass man zu einem Kind oder nahen Verwandten, den man 20 Jahre nicht gesehen hat, eine tiefe Bindung aufbauen kann? Warum/nicht?

3) Was verstehst Du unter „ganzheitlichem Denken“? Ist das für Dich überholte Philosophie oder heute noch relevant?

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