# 501: BOOK OF THE WEEK — “Der verlorene Zwilling“

--

Steinemann, Evelyne (2021/2006). Der verlorene Zwilling: Wie ein vorgeburtlicher Verlust unser Leben prägen kann.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Dieses Buch ist eines von zweien, die ich zu dem Thema „Verlorener Zwilling“ bestellt habe. Ich bin auf das Thema auf meiner langen inneren Reise dieses Jahres gestoßen. Lange habe ich es völlig ignoriert, bis das nicht mehr ging. Es gab da zu viele spannende Hinweise auf Eigenschaften, die Menschen mit verlorenen Zwillingen haben, denen ich nachgehen wollte. Es hat sich gelohnt. Zwar kann kaum ein Mensch mit Gewissheit sagen, dass er am Trauma eines verlorenen Zwillings leidet, da es meist schlichtweg nicht mehr nachweisbar ist, dass da noch ein zweiter oder gar mehr Föten im Mutterleib waren. Trotzdem ist es mehr als plausibel, dass das Phänomen viele Menschen betrifft. Es ist durchaus nachgewiesen, dass jede fünfte Schwangerschaft als Mehrlingsgeburt beginnt.

Was ist nun so traumatisch daran, einen Zwilling im Mutterleib zu verlieren, von dem niemand so recht weiß, ob es ihn überhaupt gab? Nun, Trauma bedeutet Wunde und wie bei jedem Verlust eines Lebens, das uns lieb und nahe war, erleiden wir als Menschen seelische Wunden. Das Problem ist nur, glaubt man dem Ansatz, dass wir diesen Verlust noch vorgeburtlich und damit „unbewusst“ erleben, sofern wir eines der weiteren Kinder waren. Unbewusst bedeutet hier aber nur, dass wir das Ereignis eben nicht in die Kette sonstiger Lebensereignisse einordnen können, die uns seit der frühen Kindheit begegnet sind. Unstreitig ist jedoch heute, dass unser Bewusstsein nicht erst mit der Geburt beginnt. Jede Mutter wird bestätigen können, dass ihr Ungeborenes bereits im Bauch einen „Charakter“ und damit gewisse Eigenschaften besaß, die das Kind auch mit den begrenzten Kommunikationsmitteln im Bauch kundgetan hat.

Überhaupt ist dieses Buch nicht nur faszinierend zu lesen in engem Bezug zum Thema Zwillinge. Es ist überhaupt sehr interessant, den neusten Stand der pränatalen Forschung in dieser leicht verständlichen und konzisen Weisen zu lesen. Man erfährt viel über das Wissen, das uns heute zum Thema Mehrlingsschwangerschaften und Schwangerschaften überhaupt zur Verfügung steht. Das fasziniert sogar Menschen wie mich, die damit persönlich noch keinerlei Berührung hatten. Doch wir waren alle mal winzig und im Dunkel der Fruchtblase gefangen, bevor wir schließlich auf mehr oder weniger sanfte Art ins Leben ausgespuckt wurden.

  1. Unmöglich
Steinemann 46

Einmal auf einem Meditationsseminar hatten wir eine Übung und sagten uns alle möglichen Adjektive ins Gesicht, die uns zu unserem Gegenüber einfielen. Es war eine schöne Übung. Irgendwann lachte meine Übungspartnerin und sagte das Wort „unmöglich“, um mich zu beschreiben. Ich lachte auch und fand das irgendwie sehr treffend. Meine Eltern haben von frühester Kindheit an den Satz gesagt: „Du bist unmöglich“. Irgendwie habe ich das verinnerlicht und es passt zu meinem ganz besonderen Humor und Wesen. Jedenfalls musste ich an diese Begebenheit denken, als ich diese Passage hier und die vielen weiteren zum Wunder des Geborenwerdens las.

Jedes Mal, wenn ich ein Baby sehe oder mir wirklich mal einen Moment länger Gedanken um die Menschen um mich herum mache (was recht häufig vorkommt), dann habe ich diesen Gedanken: „Wir sind doch unmöglich“. Oder andersherum stelle ich mir die Frage: „Wie kann das sein, dass wir möglich sind?“ Es ist doch einfach nur ein Wunder, dass auf der Welt so viele unterschiedliche Menschlein herumlaufen, die alle (außer Zwillingen) anders aussehen und anders gebaut sind. Das ist doch einfach nur umwerfend. Und egal, welche „Handicaps“ wir körperlich oder psychisch haben mögen — das ist doch einfach phänomenal, was wir alles können! Noch kaum ein Computer kann all das kopieren, was unser Hirn zustande bringt, mal ganz davon abgesehen, was wir für emotionale Fähigkeiten haben. Will sagen: Das ist noch immer ein Wunder für mich.

Das Buch lässt dieses Wunder des Lebens durch die unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema „verlorener Zwilling“ immer wieder sehr lebendig werden. Und ich persönlich wünsche mir, dass ich diese Begeisterung für das Wunder des Lebens — diese schiere Unmöglichkeit, die doch „ist“, niemals aus dem Blick verliere. Ich will mich dafür immer wieder neu begeistern können. Und vor allen Dingen will ich mich nicht in Dogmen verlieren. Mir ist es egal, ob jemand glaubt, dass Gott uns erschaffen hat oder ein genialer Wissenschaftler in einem geheimen Labor am Anfang der Menschheitsgeschichte. Jeder darf glauben, was er/sie will. Für mich ist nur die Tatsache zauberhaft, dass wir den Ursprung der Menschheit wahrscheinlich nie zu 100% klären können. Dieses offene Rätsel macht die Schönheit des Menschseins und die Faszination daran aus.

2. Abschiede

Steinemann 144–45

Diese Passagen zum Thema Abschied am Flughafen musste ich als ehrenamtliche Flughafenseelsorgerin natürlich markieren! Dabei kam dieses Beispiel durchaus überraschend. Im ganzen Buch geht es natürlich letztlich um Abschied(e). Manche hatten, wenn es die Eltern wussten, sogar mehrere Zwillingsgeschwister im Bauch, von denen eben nur einer oder maximal zwei überlebten. Von allen anderen galt es, Abschied zu nehmen — und zwar unfreiwillig. Warum und wieso es dazu kommt, dass einige im Mutterleib überleben und andere nicht, das ist im Nachhinein das große Rätsel, dass dann für die „Übriggebliebenen“ bzw. „Überlebenden“ zum Trauma werden kann. „Wieso habe ich es geschafft? Habe ich zu viel Platz eingenommen? Bin ich schuld?“

Wenn es um Abschiede am Flughafen geht, dann kann ich mir gut vorstellen, wie genau diese Menschen mit dem Verlorenen Zwillingstrauma retraumatisiert werden. Es stimmt, dass das Reisen mit dem Flugzeug etwas Besonderes ist — eben besonders weit weg vom sicheren Boden. Zudem lässt man Menschen automatisch „ganz weit weg“ gehen, wenn man sie am Flughafen loslässt, denn Flugzeuge fliegen offensichtlich nicht nur mal in den Nachbarort. Kaum jemand, der einen Flughafen betritt, wird nicht binnen weniger Minuten irgendwo eine Abschiedsszene beobachten können. Die sind nicht immer herzzerreißend. Die sind manchmal auch einfach still und leise. Und manchmal können sie auch sehr leidenschaftlich sein! Mir kommt gerade ein Paar in den Sinn, das ich gerade letzte Woche im Vorbeigehen am Flughafen gesehen habe. Für sie schien es nichts anderes um sie herum zu geben als die langen Abschiedsküsse, die sie sich gaben…

Schön ist, wie hier auch geschildert wird, dass die Annahme der Situation, das Bewusstsein darüber, dass ein Abschied auch eine Art Wiederaufleben eines Verlusttraumas ist, die Situation bereits verbessert. Das ist, und das ist leider eine Erkenntnis, die trotz ihrer Einfachheit sehr lange dauert zu erlangen, der Kern innerer Heilung. Sobald man das Problem wirklich erkannt und in der Tiefe angenommen und integriert hat, ist es nicht mehr solch ein Problem. Die Gefühle kommen zwar noch immer auf, was gut und menschlich ist, aber sie überwältigen nicht mehr. Mit anderen Worten: Es geht nicht mehr um ein Trauma, das immer und immer wieder mit aller Heftigkeit durchlebt wird.

Wenn man sich vorstellt, dass ein vorgeburtlicher und damit bewusst nicht erinnerter Abschied wie der eines Geschwisterkindes im Mutterleib das ganze Leben überschatten kann, wird man demütig. Denn wenn man recht darüber nachdenkt, gibt es noch so manche Begebenheit in unserem Leben, die uns auch annähernd traumatisieren kann, die wir aber vielleicht gar nicht mehr so erinnern. Trotzdem hält sie uns davon ab, unser volles Leben frei und glücklich zu leben, weil wir uns so an die Verhaltensmuster als Reaktion auf sie gewöhnt haben, dass wir uns eben etwas anderes gar nicht vorstellen können. Und damit will ich nicht pathologisieren und behaupten, dass wir alle irgendwie einen Schaden haben. Nein, es geht nicht um Perfektionismus und 100% Heilung. Vielmehr gehört das alles zum Menschsein. Trotzdem bin ich überzeugt, dass Bücher wie dieses dazu anregen, Neues über sich heraus zu finden, um Bewusstsein und damit auch Loslassen zu ermöglichen, auch wenn sicher nicht alle Leser/innen dieses Buches einen verlorenen Zwilling haben und sich ihre Probleme oder gar Traumata dadurch erklären lassen.

3. Geschenk

Steinemann 161

In diesem letzten Kapitel berichten die Betroffenen davon, was ihnen der Verlust des Zwillings, das damit verbundene Trauma und auch das Leiden daran Positives gebracht haben. Und wie man lesen kann, ist das eine ganze Menge. Vor allen Dingen geht es hier immer wieder um die Empathie und die Fähigkeit, das Menschsein in dieser teils dunklen Tiefe zu sehen und reflektieren zu können. Ich stimme auch zu, dass das viel mit Spiritualität zu tun hat. Doch es ist eine Vielzahl an weiteren Kriterien, die Betroffene scheinbar in besonderer Weise ausmachen.

Was mich vor allen Dingen durchweg beschäftigt hat, ist hierbei auch das Thema „Suchen“. Betroffene haben augenscheinlich sehr häufig diese innere Unruhe und ein permanentes Suchen in sich, wobei sie nicht ausdrücken können und auch nicht wissen, wonach sie wirklich suchen. Wenn sie dann erfahren, so jedenfalls der Ansatz (z.B. durch Aufstellungsarbeit), dass sie einen verlorenen Zwilling hatten, kommt die Antwort ans Licht: Das, wonach sie suchen und was sie aber niemals auf dieser Welt wiederfinden werden, ist ihr verstorbener Zwilling!

Man mag an die Kraft von Aufstellungen oder gar Hypnosearbeit, Rückführungen, etc. glauben oder nicht. Beeindruckend ist, dass die Betroffenen schildern, wie das Suchen plötzlich ein Ende haben kann — gehen gelassen werden kann — wenn klar ist, was gesucht wurde und das Wissen einkehrt, dass es einfach nicht zu finden ist. Das ist bahnbrechend. Und ich als Suchende, zumindest ehemals lange Suchende, weiß sehr gut, wie sich das anfühlt. Das ist irgendwann fast nicht mehr auszuhalten, wenn man nicht endlich ankommt. Und dieses Ankommen ist am Ende sehr leicht und einfach. Aber man muss erst durch die Hölle wandern, um “sich zu finden” (das ist eine blöde Formulierung, aber sie stimmt). Und diese ganze Suche, diese lange Reise, die heute Nacht ein Ende hatte, die will ich nicht missen. Sie war und ist ein Geschenk, dass ich mit anderen teilen kann und will…

Reflexionsfragen

1) Kannst Du Dich (noch immer) für das Wunder Mensch begeistern? In welchen Situationen konkret?

2) Gibt es Orte, an denen Dir Abschiede besonders schwer fallen? Welche sind das und warum genau dort?

3) Hast Du eine Wunde, die Du mittlerweile auch als Geschenk betrachtest, da sie Dir Eigenschaften gebracht hast, die Dich besonders ausmachen?

--

--