# 499: BOOK OF THE WEEK — “Berge versetzen“ (I)

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Messner, Reinhold (2010). Berge versetzen: Das Credo eines Grenzgängers.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie es dieses Buch in mein „zu lesen“ Regal geschafft hat. Ich vermute, ich habe es aus einer Bücherkiste gefischt. Messner kenne ich natürlich wie ihn vielleicht die meisten kennen — als einen der erfolgreichsten und berühmtesten Bergsteiger aller Zeiten. Das war es dann auch schon. Viele Details kannte ich nicht. Und schon gar nicht wusste ich, was und wie genau er über das Leben denkt. Natürlich kann man sich das denken, dass ein Extrembergsteiger und Abenteurer auch das Leben in seinen Extremen kennt und darüber vieles zu berichten weiß. Aber in keiner Weise hätte ich vermutet, wie viel dieses Buch mich zu lehren hat.

Am Anfang dachte ich: Fein, dieses Buch kannst Du an einem Nachmittag lesen. Da steht bestimmt nicht viel drin. Es gibt viele Bilder, dann Exkursionsberichte im Tagebuchstil — was soll da schon lange dauern? Tja, weit gefehlt! Messner beschreibt so dicht auf jeder Seite wesentliche Erfahrungen und Erkenntnisse seiner Expeditionen, dass man nicht einfach mal „drüber fliegen“ kann. Und das gilt auch für die zahlreichen Interviews und sonstigen Fernsehauftritte, die man heutzutage natürlich auch online, z.B. auf YouTube findet. Das ist alles so gehaltvoll, dass ich mich frage, wie es wäre, wenn Messner Pfarrer wäre. Er könnte in 5 Minuten Tiefen vermitteln, an denen die Gläubigen einen Monat, vielleicht ein Leben lang, zu schlucken hätten — würden sie ihm wirklich zuhören.

Messner ist nicht gläubig. Die Frage nach Gott, lässt er „offen“ (82). Das ist vielleicht zunächst überraschend für jemanden, der dem Tode schon viel öfter viel näher war als der „Otto-Normal-Bürger“, der alles für seine finanzielle und sonstige Sicherheit gibt. Aber bei näherem Hinschauen ist Gott ein Name und das Christentum eine Gemeinschaft, mit der sich Messner nicht identifiziert. Das bedeutet aber nicht, dass er Glaubenden nichts zu vermitteln hätte. Und es bedeutet auch nicht, dass Messner an nichts glaubt. Nur ist es ein sehr tiefer Glaube an die Gesetze der Natur und deren ewige Gültigkeit, der Messners “Spiritualität” ausmacht. Und das kann ich nachvollziehen und teilen, so wie ich vieles teile, was in diesem Buch geschrieben steht.

Es ist mir diesmal wieder extrem schwer gefallen, drei Passagen auszuwählen. Fast jede zweite Seite hat in meinem Exemplar nun ein Eselsohr. Das ist einerseits fürs Schreiben eine Herausforderung. Fürs Lesen aber ist es ein wahrer Genuss. Man muss das Buch immer wieder weg legen, um die Tiefe der sehr klaren und kurzen Episoden und Zitate sacken zu lassen. Das ist gut so. Auf einen Berg steigt man auch nicht an einem Tag — zumindest selten. Dafür braucht es eine Anlaufphase, einen Aufstieg und einen ebenso geduldigen Abstieg. Das braucht es synonym auch fürs Lesen, wenn man wirklich will, dass die Worte etwas in einem bewegen, damit man vielleicht am Ende als Mensch mal das erreicht, was sich Messner auch vorgenommen hat.

  1. Weise werden
Messner 50

Tja, eigentlich kann man diese Passagen nur verhunzen, wenn man sie paraphrasiert. Das will ich nicht tun. Ich will nur sagen, dass „weise werden“ eine Beschreibung für das ist, was ich auch mein Ziel nennen würde. Einmal hat mir jemand gesagt, ich sei eine „weise“ Frau. Da habe ich gesagt, dafür ist es zu früh. Und das stimmt auch. Ich glaube nicht, dass man wirklich weise schon recht jung sein kann. Andererseits weiß ich auch, dass das nicht stimmt. Ich habe schon in Kinderaugen geschaut und gewusst, dass da ein kleiner Mensch aufgrund des Schicksals, das er schon durchlitten hat, weise geworden war.

Diese Idee vom „rückwärts fliegen“ klingt irgendwie lustig. Aber da ist etwas dran, wenn es um die Weisheit geht. Wirklich weise ist jemand, der das meiste, das er im Laufe seines ersten Lebens durch Sozialisation und akademische Bildung „gelernt“ hat, wieder verlernt und durch eigene Erfahrungen ersetzt. Natürlich muss sich das nicht ausschließen, aber meiner Erfahrung nach braucht es tiefe Erfahrungen mit sich und den Grenzen des Menschseins, um überhaupt erst einmal den Unterschied zwischen Bildung und Weisheit annähernd zu erkennen und zu verstehen. Und dazu gehört auch das Scheitern, das Messner anspricht.

Scheitern ist im Endeffekt etwas, das wir nur selbst so benennen können. Denn meist geht es ja um Ziele, die wir uns auch selbst gesetzt haben. Erreichen wir sie nicht, „scheitern“ wir oder fühlen uns zumindest so. Bei Messner sind das abgebrochene Expeditionen. Bei anderen sind das vielleicht abgebrochene Berufswege oder ein verkackter Karrieresprung. Erst viel später lernen wir in der Regel, dass dieses Scheitern uns ein bisschen klüger, vielleicht am Ende sogar „weise“, gemacht hat. Und das zu erstreben, dafür braucht es bereits Größe und Demut. Und es braucht Mut, würde ich sagen. Denn wenn man dieses „Ziel“ verfolgt, dann sagt man unweigerlich „nein“ zu sehr vielen anderen Dingen, die uns implizit oder explizit als zum Glück notwendig suggeriert werden.

Messner kümmert das nicht (mehr).

Aber dafür brauchte es auch einen Weg.

Seinen Weg.

Und einen Tod.

2. Tod als Angelpunkt

Messner 79

Den Bruder bei einer Expedition zu verlieren ist nichts, was „verwundert“, schaut man sich die Berge an, auf die Messner mit seinen Begleitungen gestiegen ist. Und natürlich ist sich jeder Abenteurer über den möglichen Verlust des Lebens bewusst. Genau darum geht es ja, wie Messner immer wieder betont: Man weiß um die Gefahr um das Leben und unternimmt das Abenteuer, eben weil man lebendig zurückkehren will. Es geht nicht in erster Linie um Erfolg oder Geld oder gar Rekorde — es geht darum, das eigene Leben wider alle Widerstände zu erhalten, ja, sogar noch „reicher“ zu machen durch die Erfahrung.

An diesem Tag im Jahre 1970 wurde aus der ganzen Abenteuerphilosophie das für Messner wahrscheinlich einschneidendste Erlebnis. Er verlor seinen Bruder. Er wurde direkt hinter ihm am Berg begraben. Die Schritte wurden still. Die Stimme verstummte. Messner kam mit Erfrierungen und Nahtoderfahrungen davon — er überlebte.

„Das Wissen, dass mein Leben begrenzt ist, gibt ihm eine eindeutige Richtung. Der Tod ist nicht Ziel, aber Angelpunkt des Lebens.“

Diese Sätze drücken Klugheit aus — Bewusstsein. Es gibt viele ähnliche Zitate von ähnlich weisen Menschen. Aber in diesem Kontext des Bergsteigens; dem totalen sich Aussetzen den Naturgewalten gegenüber, ist es noch mal eindrücklicher. Und natürlich bedeutete das für Messner ein Nachdenken über sein Leben — über die Abenteuer — über Sinn und Zweck dieser Abenteuer. Es war ja nicht so, dass sein Bruder der erste Mensch im Umfeld Messners gewesen wäre, dem dieses Schicksal am Berg widerfuhr. Natürlich ist das irgendwie Berufsrisiko. Doch die Erfahrung am eigenen Leibe macht eben alle Theorie, alles „Nachvollziehen“ und „Beobachten“ der Erfahrungen anderer, zunichte.

Trotzdem kletterte er weiter.

Eben genau deshalb.

Weil das Leben begrenzt ist.

Und man sein Leben leben darf –

Mit seinem persönlichen Sinn.

3. Sinn stiften

Messner 82

Menschen, die mich kennen, wissen, wie lange ich auf Sinnsuche war. Und wahrscheinlich bin ich das irgendwie immer noch — an manchen Tagen weniger, an den meisten mehr. Ich würde aber sagen, dass das Schlimmste überstanden ist. Und das ist genau deshalb eingetreten, weil ich die Erkenntnis hatte, die Messner hier teilt. Es gibt keinen allgemeingültigen Sinn. Niemand gibt uns einen Sinn vor. Oft denken wir, dass es doch so ist. Und viele flüchten sich in Religionen und sonstige kollektive Ansammlungen, in denen es Dogmen gibt, die vorgeben, was Sinn hat — was gut ist und was böse.

Ein Mensch wie Messner braucht das nicht. Er lebt nach der „inneren Uhr“. Er folgt dem, von dem er spürt, dass es in ihm ist. Und dieses Etwas ist individuell. Meistens schreit es sogar danach, ausgelebt zu werden. Wir fühlens uns dann „eins“ mit uns selbst. Und Messner hat recht, dass das Nicht-Ausleben von diesem „Sinn“ Menschen unglücklich und verbittert sein lässt. Und das alles kann man zurecht „göttlich“ nennen, wie Messner es hier tut, auch wenn er die Gottesfrage offen lässt. Das ist ganz nah an Schöpfung — an dem Gedanken, dass wir geboren werden in unserer Einzigartigkeit, ja, auch in unserer vermeintlichen Unvollkommenheit.

Für mich war das größte Problem, dass ich diesen Sinn zwar spürte und auch lebte, aber nur mit schlechtem Gewissen und/oder mit Zweifeln, ob dieser Sinn wirklich der Sinn sei. Denn ich suchte immer wieder nach Allgemeingültigkeit. Ich wollte einen Sinn, der auch nach „objektiven“ Maßstäben Sinn macht. Damit meine ich so etwas wie: ein sozialer Beruf ist sinnvoller als ein nicht-sozialer. Oder eine Beschäftigung, die all meine geistigen und kognitiven Fähigkeiten anzapft, ist sinnvoller als eine stupide und wenig herausfordernde. Am Ende lernte ich, dass all diese Wertungen für die Katz sind. Den Sinn einer jeden Minute des Lebens, das teile ich mit Messner heute, gibt man sich selbst. Indem man in den Dingen aufgeht, die man mit Hingabe tut und sich von allen äußeren und inneren Wertungen trennt, lebt man ein sinnvolles Leben.

Auch ich bin dankbar, dass ich, wie Messner, recht früh im Leben immer wieder und recht nah dem Tod begegnen durfte. Das kann man natürlich erst „hinterher“ mit dieser Dankbarkeit und der Weisheit, die darin steckt, sagen. Aber es ist wahr. Es ist diese Erfahrung, ähnlich wie der Tod von Messners Bruder, die eine Wende eingeläutet hat. Und es brauchte bis heute, um die volle Wirkungskraft dieser Wende offensichtlich zutage zu fördern. Letztlich liegt dahinter Befreiung. Es ist die Befreiung, die wir alle in uns tragen — eine Befreiung von uns selbst. Wir alle werden mit Prägungen und inmitten von Konventionen geboren. Auch Messner wird oft genug gehört haben, dass ein Leben wie seines, in dem er immer wieder sein Leben aufs Spiel setzt, keinen „Sinn macht“.

Und genau das stimmt. Da redet er nicht um den heißen Brei herum. Was er macht, ist absolut sinnfrei im Sinne von — es führt nirgendwo hin. Es bringt niemand etwas. Es kostet noch dazu Geld. Und es kostet Nerven, Kraft, Gesundheit. Aber genau das ist eben sinnstiftend. Denn das Bergsteigen und die späteren Aktivitäten, z.B. Wüstendurchquerung, gaben und geben Messner einen Sinn. Das spürt man in dem Moment des Tuns. Da gibt es keine Zweifel, denn in den Momenten der sinnstiftenden Tätigkeit denkt man eben genau nicht über den Sinn nach. Dann ist man nur man selbst. Und tut man das konsequent so wie Messner, dann erreicht man durch diese sinnvolle Lebensgestaltung auch Messners Ziel: man wird weise…

Reflexionsfragen

1) Was verstehst Du unter „Weisheit“? Kennst Du „weise“ Menschen in Deinem Umfeld? Wie wurden sie dazu?

2) Kannst Du Messners Entscheidung nachvollziehen, nach dem Tod seines Bruders am Berg erst recht dieses Leben weiter zu leben? Könntest Du an der Seite eines solchen Menschen leben?

3) Welchen Sinn gibst Du Deinem Leben in der aktuellen Lebensphase? War das mal anders?

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