# 492: BOOK OF THE WEEK — “Hans im Glück”

Silke Schmidt
9 min readOct 8, 2023

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Gebrüder Grimm (1819/2019). Hans im Glück. (kindle)

Geschichte hinter der Buchauswahl

In Israel ist Krieg. Ich bin in Beirut, ca. 250 Kilometer Luftlinie von Tel Aviv entfernt. Aus dem Süden des Libanons wird geschossen. Darf man an einem solchen Tag über „Hans im Glück“ schreiben? Kann ein Märchen uns aus der brutalen und kriegerischen Realität verhelfen? Diesen Anspruch habe ich gar nicht und wäre Hans ein lebendiger Mensch unter uns, so hätte er den sicherlich am wenigsten, jedenfalls kann man davon ausgehen aufgrund seiner Darstellung. Und für mich selbst, da bin ich ehrlich, gibt es kaum einen Grund, nicht über das Glück zu schreiben, auch an Tagen wie diesen.

Wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann ist es, dass wirkliches Glück nicht vom Leid anderer abhängt.

Dieses Märchen ist zu mir gekommen über einen lieben Menschen, der dazu etwas im Deutschlandfunk unter der Fragestellung “Woher weiß ich, was ich glaube?” gehört hat. Ich kannte die Geschichte natürlich aus Kindertagen, konnte mich aber an keine Details mehr erinnern. Viel häufiger erinnert man über solche Märchen das, was andere darüber sagen bzw. was der Volksmund über die entsprechende Märchenfigur suggeriert. Wenn jemand zu einem sagt: „Der ist wie Hans im Glück“ und dabei mit den Augen zwinkert, kann man sich an zwei Fingern abzählen, dass das nicht nur Gutes zu bedeuten hat…

Ich habe die Geschichte heute mit Freude noch einmal gelesen. Und für mich ist sie das, was auf dem Titel steht: Eine Geschichte des Glücks. Ich könnte jetzt viel vermeintlich „Psychologisches“ aus dem Coaching-Jargon anführen, um das zu erklären. Das tue ich aber nicht. Auch stimme ich mit kaum einer der Interpretationen überein, die man findet, wenn man über das Märchen bei Wiki liest. Schlimmer noch — als ich diese kurzen Interpretationen gelesen habe, wollte ich gar nichts anderes mehr lesen. Es hat mich geradezu genervt, was Wissenschaftler/innen und Literaturkenner und sonstige Schlauberger aus dieser Geschichte machen, die offensichtlich alles dafür tun, ihrem Glück im Wege zu stehen. Am Ende kommt man sich dabei vor, als sei man selbst der Idiot, nur weil man Hans das Glück „abkauft“.

Mir geht es jetzt nicht darum, hier jemanden vom Gegenteil zu überzeugen. Wer glauben will, dass Hans ein naiver (das Wort fällt immer wieder…) Dummkopf ist, der darf das gern tun und sich in „Sicherheit“ wägen. Ich für meinen Teil bin gern in vielerlei Hinsicht ein Hans. Das braucht ein halbes Leben, um dahin zu kommen. Man muss sich aller Normen und Konventionen von Gesellschaft, Kirche und sonstigen meinungsgebenden Massen entledigen. Man muss auch lernen, jeden Tag so zu nehmen, wie er nun mal kommt und sich darüber sogar zu freuen (wer damit ein Problem hat: ein kurzer Ausflug auf den Friedhof, eine Intensivstation oder ein Obdachlosenheim kann Wunder bewirken). Ich denke, das konnten die Menschen zur Zeit der Publikation des Hans besser. Und auch heute können es Menschen noch in Ländern, in denen es weniger Luxus als in Deutschland gibt. Trotzdem liegt es an jedem von uns, von Hans zu lernen.

  1. Meine Zeit…
Grimm 3

Das sind die allerersten Sätze im Märchen. Hier passiert eigentlich noch nichts, was Hans später vermeintlich zum Verhängnis wird. Trotzdem bin ich an diesem Satz hängen geblieben: „Herr, meine Zeit ist herum.“ Glaubt man einigen Interpretatoren, die Hans Reise zur “Mutter” als den Tod deuten, so könnte das hier auch heißen: die letzte Stunde von Hans hat geschlagen. Kein Mensch und schon gar kein Kind würde an so etwas hier an dieser Stelle denken, behaupte ich. Vielmehr finde ich es so schön, wie man diese Erkenntnis überhaupt haben kann! Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich gerade viel über die Zeit als solche nachdenke. Grundsätzlich aber kann nur jemand, der auf seine innere Stimme hört, einen solchen Satz äußern, sofern eben nicht ein fixer Zeitraum für eine bestimmte Tätigkeit vereinbart wurde, was hier zutreffen kann.

Worauf ich hinaus möchte: Wie oft „verpassen“ wir den „richtigen“ Zeitpunkt — zumindest gefühlt? Wie oft plagen wir uns damit herum, den „richtigen“ Zeitpunkt ja nicht zu verpassen? Sollte ich jetzt kündigen oder später? Sollten wir jetzt heiraten oder später? Sollten wir dieses Jahr auf die Malediven fahren oder später? Bei den Antworten auf all diese und noch mehr Fragen werden die allermeisten weniger „innengerichtet“ argumentieren, nehme ich an. Es werden rationale Gründe gefunden und abgewogen, warum, wieso, weshalb welcher Zeitpunkt für was „richtig“ ist. Wer fragt sein Herz, was nun wirklich dran ist völlig abseits sämtlicher „Gründe“?

Gott findet immer den “richtigen” Zeitpunkt.

Einen anderen gibt es gar nicht.

Wir brauchen gar nichts zu tun.

Für mich trat Hans ab diesem frühen Punkt des Märchens eine völlig selbstbestimmte Reise an. Er gibt den Startschuss, er macht sich auf den Weg, eben weil das jetzt dran ist für ihn. Das hat Größe. Das ist kein Zweifeln, kein Betteln. Da ist auch keine Not. Hans weiß einfach, es ist jetzt Zeit, egal, ob nun sieben Jahre vereinbart waren oder nicht. Er ist es, der darauf hinweist. Er muss nicht darauf hingewiesen werden. Er braucht keinen Wink von außen. Und genau mit dieser Selbstbestimmtheit macht er sich auf den Weg mit etwas, das ihm von Beginn an eine Last ist: dem Stück Gold, das schon wenige Zeilen später gegen ein Pferd und noch viele weitere Dinge eingetauscht wird, bis schließlich nichts mehr da ist.

Das Glück von Hans wächst mit jedem „Verlust“.

Ich verstehe das.

Doch es braucht Zeit,

um das Glück darin zu sehen,

viel Zeit.

2. Wünschen

Grimm 7

Hans hat an dieser Stelle des Textes schon einiges „eingetauscht“, das vermeintlich weniger wert war als das vorherige Tauschgut. Offensichtlich ist hier, dass er das Glück, das mit jedem Tausch wächst, nicht nur empfindet oder ausstrahlt. Nein, er spricht es sogar aus. Er ist sich vollends darüber bewusst, dass er glücklich ist. Es gibt keinen anderen Ausdruck, den er verwendet. Und dann kommt der letzte Teil des Satzes, der mich noch mehr fasziniert hat; „alles, was ich mir wünsche, trifft mir ein wie einem Sonntagskind.“ Auch das kehren Interpretatoren ins Negative, wenn sie psychologisieren, Hans sei ein Vermeider von negativen Erfahrungen. Quatsch, sage ich! Der Witz ist aber, dass Hans gar nicht merkt, dass nicht unbedingt seine Wünsche in Erfüllung gehen. Vielmehr ist sein Glück, dass er sich eben GAR NICHTS wünscht. Erst im Nachhinein deutet er einen Wunsch als in Erfüllung gegangen. In Wahrheit aber hatte er zuvor nur eine Last, ein Problem, entdeckt, das gelöst werden sollte. Das war sein Wunsch.

Diese Unterscheidung ist aus meiner Sicht fundamental, denn genau darin liegt das Problem von uns Menschlein, die wir selten Hans sind. Wenn wir ein Problem haben, dann erdenken wir uns immer gleich eine konkrete Lösung. Finden wir eine solche noch nicht einmal in unseren Gedanken, verzweifeln wir vollends. Haben wir eine im Kopf, sind wir nur „glücklich“, wenn diese Lösung auch eintrifft. Bei diesem Prozess, passiert etwas Wichtiges: Wir versteifen uns so auf die eine Lösung, dass wir andere Lösungen, die einfach so des Weges kommen, gar nicht sehen — sie nicht erkennen. Und schon gar nicht sind wir dann, wie Hans in der Lage, diese Lösungen auch noch im Nachhinein als unsere Wünsche zu sehen. Vollends vergessen haben wir bis dahin ohnehin schon, was genau das Problem war, das wir uns “wünschten” zu lösen.

Im Gegensatz zum Sprecher im Radiobeitrag des Deutschlandfunks sehe ich in der Geschichte selbst nicht viel von „Gott“. Hans selbst spricht an anderer Stelle nicht von “Gottes Gnade” sondern nur von Gnade. Und Hans spricht auch nicht vom “Glauben” an einen Gott, obwohl man als Lesende/r annehmen kann, dass das, was Hans eben hat, Gottvertrauen ist. Trotzdem sind das alles Dinge, die eben nicht im Text stehen, zumindest nicht in meiner Ausgabe. Ich stimme überein, dass man all das mit Gott und Glauben in Verbindung bringen kann und, dass das auch gut tut, mal mehr zu glauben und weniger zu theologisieren. Das Grundproblem bzw. andersherum die Grundbotschaft, die mir wichtig ist heraus zu stellen: Hans schafft es immer, die Dinge von der guten Seite zu betrachten. Und damit ist der glücklich.

Ist das nicht ganz einfach?

Können wir es nicht einfach mal so einfach stehen lassen?

Können wir nicht einfach mal lernen, wieder wie Hans zu sehen und zu leben?

Will man noch ein bisschen Theologie reinbringen, dann bietet sich hier sehr schön die fernöstliche Ecke an, denn das Christentum mit all seinem Dogma hat leider ein fundamentales Problem: Es wertet ständig. Wo immer es Gebote gibt, da gibt es auch gut oder schlecht, richtig oder falsch. Im Buddhismus gibt es das nicht bzw. weniger, da es da kein Dogma gibt. Die Lehre ist keine Lehre, sondern mehr oder weniger ein Dialog. Und eine der Eigenschaften, die „Erleuchtete“ verloren haben, ist: das Werten. Und Werten kommt durch Vergleichen. Und vergleichen kann man nur, wenn man eine gewisse Messlatte, ein gewisses “Ideal” hat. All das hat Hans nicht und auch uns würde das gut tun. Denn wenn wir behaupten würden, wir wüssten immer ganz genau, was uns gut täte, dann ist das ein Irrtum. Wir spüren aber wohl, was uns in einem bestimmten Moment gut tut. Alles andere sind nur Gedanken. Auch die macht sich Hans im Vorfeld nicht. Er nimmt einfach, was das Leben ihm schenkt.

Eine Einladung an uns…

3. Frei

Grimm 8

Wer sich jemals wirklich bewusst von Dingen und Menschen und Gedanken befreit hat, dem steigen bei dieser Passage Tränen in die Augen. Wer sich das wünscht, der kann in Hans eine Anleitung zum Glück finden. Wer daran kein Interesse hat, der kann Hans weiter interpretieren und verurteilen. Was auch immer jeder aus dem Text für sich mitnimmt, es sei ihm als Geschenk des Lebens gegeben. Diese Geschichte ist nämlich ein Glück für all jene, die bereit sind, Literatur als Geschenk, ja, sogar als Wunder zu betrachten. Und da kann man die Bibel miteinschließen. Man muss es aber nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Bibel den Menschen mehr Last als Befreiung beschert. Das liegt vielleicht nicht an den Geschichten an sich, sondern an den Menschen, die die Geschichten weitergeben und an den Institutionen, die die Interpretationsherrschaft beanspruchen.

Vor einigen Wochen hat ein sehr weiser Theologe von der Literatur Dostojewskis geschwärmt und herausgearbeitet, wie sehr Dostojewski Weisheiten und Taten, die in der Bibel beschrieben sind, in seiner Literatur herausgearbeitet hat. Das kann man natürlich nur erkennen, wenn man die Bibel kennt. Ich aber stelle mir die Frage, ob es die Bibel dazu braucht. Kann der Mensch nicht einfach glücklich mit den wunderbaren Erkenntnissen sein, die ihm durch Dostojewski geschenkt werden, ohne zu wissen, dass sie auch in der Bibel stehen? Und stehen nicht alle Erkenntnisse, die auch irgendwo anders über das Leben stehen, auch in der Bibel? Geht es hier um die Erkenntnisse und deren Beitrag zum Glück oder um Intellektualität und das Aufrechterhalten christlicher Einmaligkeitsansprüche?

Hans hätte sich solche Fragen weder gestellt

Noch beantwortet.

Sie hätten ihn ganz und gar belastet.

Und Last ist das Gegenteil von Freiheit.

Danke, Hans.

Für mich kam Dein Text gerade richtig.

Du hast mich daran erinnert,

was es heißt,

die Last zu spüren

und den Mut zu haben

sie los zu lassen.

Ganz ohne Trinität und Dogmatik

Nur mit Pferd und Gans

Und schließlich mit nichts.

So werden wir geboren

Und so gehen wir auch.

Die Zeit dazwischen

Können wir uns so glücklich machen

Wie es uns gefällt.

Frag Dich selbst:

Ist Deine Zeit gekommen,

um Hans in Dein Leben zu lassen?

Mit herzlichem Dank an RRS für die Inspiration

Reflexionsfragen

1) Gab es mal einen Moment in Deinem Leben, in dem Du wusstest „jetzt oder nie“? Was hat das für Dein Leben für Folgen gehabt?

2) Wenn Du an Hans denkst, welche Adjektive fallen Dir spontan als Beschreibung ein?

3) Wenn Du Dich „belastet fühlst“ — wo in Deinem Körper spürst Du das am meisten?

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