# 488: BOOK OF THE WEEK — “Vom unfreien Willen”

Silke Schmidt
6 min readSep 10, 2023

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Luther, Martin (1525). Vom unfreien Willen.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Eben musste ich schmunzeln, als ich die Datei geöffnet habe: Mein Blog startete mal unter dem Heading „Startup Story Learning.“ Nun, drei Jahre später, schreibe ich über Luther. Tja, das ist das Leben, wenn man es gewähren lässt. Und das bringt uns auch schon zu Luther. Ist es unsere Wahl, unsere Entscheidung, was uns im Leben widerfährt? Machen wir das Leben oder macht es uns? Und weiß Gott, was er tut, bevor er es tut? Haben wir überhaupt irgendetwas zu entscheiden oder sind wir mehr oder weniger ausgeliefert? Welche Rolle spielen „Gut“ und „Böse“ dabei?

Das alles sind existenzielle Fragen von einem Ausmaß, das nur schwer ermessbar ist. Kein Mensch auf der Welt kann sich als Einzelner all diesen Fragen in der Tiefe und in Schriftform widmen, obwohl es Theologen natürlich versuchen. Luthers Schrift über den unfreien Willen ist im Austausch mit seinem „Gegenspieler“, dem Humanisten Erasmus von Rotterdam, entstanden. Die beiden lieferten sich einen amüsanten und sprachlich äußerst derben Kampf mit Worten. Wer sich in die Hintergründe dazu näher einlesen will, kann das im Netz herzlich gern tun. Ich werde hier keine Sekundärliteratur zitieren, da ich sie schlichtweg nicht gelesen habe. Wie immer halte ich es mit ein paar herausragenden Passagen, die mich angesprochen haben in meiner jetzigen Situation und am jetzigen Punkt meines spirituellen Weges. Es geht nicht um eine theologische Abhandlung.

  1. Diverse Gaben und Ansichten?
Luther 2

Diese aufeinander folgenden Passagen habe ich deshalb ausgewählt, da ich sie so völlig unterschiedlich sehe. Zunächst einmal ist zu den diversen und sich ergänzend verteilten Gaben zu sagen, dass ich das natürlich genauso sehe. Vielmehr noch: Das ist der Kern meines Glaubens. Die Vielfalt der Menschheit und der Welt ist atemberaubend und göttlich insofern, als all diese Unterschiedlichkeit wie ein Präzisions-Uhrwerk in ihrer Ganzheit funktioniert. Das ist einfach unvorstellbar und genau die Diversität der Gaben ist es, die uns das täglich erfahren lässt.

Ich habe mich lange schwer getan damit, Diversität als „Label“ anzuerkennen und selbstbewusst zu vertreten, da ich gleich immer die Notwendigkeit der Definition sehe. Die bleibt meines Erachtens auch. Trotzdem kenne ich kaum ein anderes Wort, dass das so trifft, was mich so fasziniert. Und das ist das Einzige, was ich wirklich „predigen“ könnte aus ganzem Herzen — dass wir diese menschliche Vielfalt in der Gemeinschaft, aber gerade eben auch als Individuen, ausleben dürfen und sollen, um unser Glück zu finden. Doch dafür braucht es natürlich den Wunsch, erst einmal heraus zu finden, was einen nun „anders“ und damit einzigartig macht. Damit ändert sich zwar nichts außer der Bewusstheit über diese innere und äußere Diversität. Doch die Bewusstheit ist die Grundlage für die Annahme und vielleicht auch für die Verbreitung des Glaubens, der sich im Prozess einstellt.

Was mir allerdings Luther befremdlich erscheinen lässt ist das starre Festhalten an den unabänderlichen christlichen Überzeugungen. Das ist dogmatisch und da bin ich still. Ich kann verstehen, aus welcher Haltung und Logik Luther argumentiert. Aber genau diese Starrheit und der dogmatische Anspruch einer einzig gültigen Wahrheit ist es, bei der ich mich von der Kirche fernhalte. Und dabei geht es mir um die Schrift, nicht um den Glauben an sich. Ich werde nie bezweifeln, dass direkte Gotteserfahrung durch Spiritualität jedem eine Wahrheit zeigt. Aber ich grenze mich dagegen ab, dass die Schrift sich einzig und allein in einer Weise auslegt, dass darin absolute und unabänderliche Wahrheit sogar wörtlich kund getan wird, die der Mensch einfach so erkennt.

Das hat schon zu viele Kriege auf der Welt hervorgebracht –

Innerliche und äußerliche.

Und am Ende verliert der Mensch seine Einzigartigkeit.

2. Demut

Luther 14

Das war für mich die wertvollste Passage. Ich glaube daran, dass nur derjenige, der sich gänzlich in die Verzweiflung gestürzt und (fast) zu Grunde gegangen ist, wahrlich demütig werden kann. Ich sage „sich“ gestürzt, denn letztlich braucht es eine aktive Tat. Und die wird von etwas ausgelöst, das wir Leben nennen. Wir können aber auch Gott sagen. Das muss jeder entscheiden. Sprache ist ein Feld, in das ich hier nicht einsteige. Wichtig für mich hier ist nur, dass solche Momente der Demut einen erkennen lassen, dass es Gott gibt, dass man „ausgeliefert“ ist und der eigene Wille einem nur im Wege steht — sofern man dachte, man hätte einen.

Luther nimmt in seiner Schrift alle Argumente von Erasmus, der für einen freien Willen plädierte, logisch auseinander. Mich stört das etwas, da ich, wie schon oft gesagt, sehr viel katholischer bin als mancher denken möge. Und damit geht nicht einher, dass ich an einen freien Willen glaube, das tue ich nicht. Ich glaube aber daran, dass der Mensch auch ohne Schrift und ohne Theologie und ohne stringente Logik, die „Wahrheit“ erkennen kann und Gott folgen kann — auch ohne sich dessen bewusst zu sein oder in die Kirche zu gehen oder das Wort “Gott” in den Mund zu nehmen. Und nichts anderes meint Luther. Sein Denken ist von Prädestination geprägt. Der Mensch hat nicht viel zu sagen bei der Wahl, ob er Gott folgt oder nicht. Ich glaube das auch nicht. Ich hätte mich bestimmt nicht aktiv dazu entschieden. Und doch weiß ich, dass ich mir nichts „Besseres“ hätte wünschen können. Das meint auch Luther so ähnlich.

3. Die Wahl der Unfreiheit

Luther 36

Dieser Satz wird viel zitiert. Hier sagt Luther auf einer der letzten Seiten zu Erasmus, nachdem er all seine Gegenargumente stringent logisch mit Hilfe der Schrift abgebügelt hat, dass er selbst den freien Willen gar nicht haben wollte, selbst wenn es ihn gäbe. Und auf der nächsten Seite erklärt er dies u.a. damit, dass er sich nach jeder Entscheidung immer fragen würde, ob er nun im Sinne Gottes handeln würde. Unklar bleibt dabei etwas, wie genau Luther und überhaupt der Glaubende wirklich wissen könne, ob er dem Willen Gottes folge, sofern er an die Unfreiheit des eigenen Willens glaube.

So oder so glaube ich daran, dass das genau der „Kampf“ ist, den jeder Glaubende, egal, in welcher Religion, sein Leben lang lernen darf. Es ist das Hören auf die innere Stimme, die Gott ist. Woanders im Außen findet man sie nicht. Da kann man sich sicher sein, dass man auf dem Holzweg und das Ego der wahre Entscheider ist, egal, wie schön und gut und lieb und nett die Ratschläge sind. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass christliche Ratschläge anderer Christen eben auch auf menschlichem Denken und oft nicht auf Demut beruhen. Was ich sagen will: Dieser eigene Weg, dem zu folgen, was in einem ist, was Gott will, der fällt nicht vom Himmel. Den muss man lernen. Und es kann sein, dass eben nicht alle dazu auf der Welt sind und wir das nicht entschieden haben.

Ich glaube dran.

Ich bin die Willensstärkste

Wenn es darum geht

Den „eigenen“ Willen

Hinter mir zu lassen.

Und dem Willen dessen zu folgen

Was man „Gott“ nennt.

Beides ist Wille.

Und Willensstärke bewirkt auch Handlungsstärke.

Nur Handlungen bringen einen zu neuen Erfahrungen.

Ist es mein eigener Wille,

nach Beirut zu gehen?

Sicher nicht.

Aber der Wille wurde mir geschenkt,

es zu tun.

Das macht demütig.

Und Demut wird mich auch

Zum nächsten Schritt bringen.

Wie auch immer der aussehen möge.

Reflexionsfragen

1) Denkst Du, dass Diversität und Individualität mit Kirche zusammengehen können; also mit einem Glauben, der darauf beharrt, dass in der Bibel die „Wahrheit“ steht?

2) Wie definierst Du „Demut“? Gib ein Beispiel.

3) Würdest Du, wie Luther, den freien Willen „ablehnen“, um nur auf Gott zu vertrauen? Warum/nicht?

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