# 473: BOOK OF THE WEEK — „Sitt Marie-Rose”

Silke Schmidt
7 min readJul 2, 2023

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Adnan, Etel (2023/1988). Sitt Marie-Rose: Eine libanesische Geschichte. 4. Auflage.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Meine Planung für Beirut führt mich zurück in meine Vergangenheit. Das ist eigentlich nie gut, denn wir Menschen sind am glücklichsten, wenn wir weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft leben. Aber wann gelingt uns das? Etel Adnan war unter den Autorinnen, die ich in der Dissertation vor fast genau einer Dekade ausklammern musste. Dabei ist sie eine der bedeutendsten „arabisch-amerikanischen“ Autorinnen, die es je gab. Doch eigentlich trifft es das gar nicht. Ja, sie lebte und lehrte in den USA. Und sie war bedeutend für arabisch-amerikanische Autor/innen. Doch ihre Wurzeln und auch ihr Leben sind viel weit-verzweigter. Auch war Englisch nie ihre primäre Sprache.

Heute ist ein Tag, an dem mir nur das Schreiben bleibt. Für Literaten ist es das Einzige, was ihnen bleibt, wenn sie sonst nicht mehr viel haben. Damit meine ich nicht „nichts“. Aber ich meine das Gefühl, nichts zu haben als ein paar Menschen und Bücher um sich herum. Das reicht. Das ist schon sehr viel. Ich will nicht klagen. Heute wurde im Gottesdienst von einer Einladung an die Armen und Gebrochenen und Verkrüppelten gesprochen, die Jesus ausspricht und die letztlich Gottes Liebe an ALLE Menschen meint — bedingungslos. „Richtig“ sein, wie man ist. Egal, wie verkehrt man sich fühlt.

Das ist Glaube.

Vielleicht ist es Christentum.

In jedem Fall gibt es Hoffnung.

Etel Adnan hat dieses Buch über eine Christin in Beirut geschrieben, die sich für die Sache der Palästinenser einsetzt und dafür ihr Leben gibt, da sie hingerichtet wird. Das ist die Geschichte in Kurzform. Doch wer wirklich wissen will, was in dieser Geschichte steckt, der muss sie lesen. Adnan schreibt nicht „linear“. Sie schreibt auch nicht erwartbar oder auf irgendeine Art „typisch.“ Sie schreibt, wie sie schreibt. Es ist ein gewebter Teppich aus Perspektiven. Da kommt auch Liebe vor und Krieg. Da kommt Elend vor und Gewalt. Da ist alles drin, was in einem guten Buch steckt, das so mancher gar nicht lesen will.

Genau deshalb ist dieses Buch wie das Leben.

  1. Reisende
Adnan 49

In dieser Passage beschreibt Adnan die Rückkehr von Sitt Marie-Rose nach Hause an einem Tag, an dem sie ihrer Jugendliebe näher gekommen ist. Genau diese Jugendliebe wird später ihr Richter sein — der Mann, der sie in den Tod schickt. Genau das ist verrückt. Doch es passiert uns doch so oft im Leben. Die Machtverhältnisse drehen sich um. Ein Mensch, der uns mal nahe war, wird plötzlich unser Henker. In einem Bürgerkriegsland, in dem die Grenzlinie auch und vor allem zwischen den Religionen verläuft, gibt es kein „Dazwischen“, wie es die heutigen postkolonialen Theorien gern haben. Es gibt einfach nur Leben und Tod; Armut und Reichtum; Moslem oder Christ.

Auch das ist Leben in Kurzform.

Dieses Buch ist so wunderschön, weil es auch die Liebe zwischen den beiden so wunderschön darstellt. Es kommt nicht oft vor, dass man einer großen Liebe begegnet. Eigentlich kommt es nur einmal im Leben so richtig vor. Sitt Marie-Rose weiß das an diesem Tag in ihrer Jugend. Ein Junge, der so ungewöhnlich ist, dass er sie so bewegt, und doch so fern bleibt. Die Tatsache, dass sie sich bekleidet „wie eine Reisende“ ins Bett legt, sagt so viel über die Besonderheit dieses Moments. Wir alle sind meist bemüht, den Moment des Zubettgehens „sauber und rein und ausgezogen“ zu erfahren. Und ja, es stimmt, das Reisen zwingt uns manchmal zu anderen Umständen. Es verlangt von uns, dass wir uns schützen, auch mit Klamotten, vielleicht in einem dreckigen Bett oder gar keinem Bett, wenn wir auf einem Stuhl, einer Bank oder in einem Zelt schlafen, wo es kalt und ungeschützt ist.

Natürlich musste ich diese Passage unterstreichen. Natürlich blieb ich bei der „Reisenden“ hängen. Es gibt nichts, was mein Leben mehr charakterisiert als das Reisen. Es ist die einzige Konstante in meinem Leben. Und ich habe bis heute gebraucht, um dies anzunehmen und zu lieben. In Wahrheit sind wir alle Reisende. Aber wir versuchen, es nicht zu sehen und verdrängen es ist. Und dann gibt es andere, die sich dessen gewahr sind und noch mehr Reisen suchen. Das Schöne am Reisen ist, dass man ständig „fremd“ ist. Man wird beäugt, manchmal verurteilt, oft für verrückt gehalten. Andersartigkeit ist immer ein Grund, warum Menschen ausgeschlossen werden. Das war bei Jesus so, bei Sitt Marie-Rose in der Geschichte, und ist auch heute bei uns noch so.

Das ist kein Grund,

nicht weiter zu reisen.

Und eine Nacht in Klamotten,

geht in die Erinnerung ein.

Ja, Reisen macht nackt,

und Kleidung schützt.

Wer uns liebt,

kann darüber hinaus sehen.

Sitt Marie-Rose hat geliebt

Und wurde geliebt.

Nur zu kurz für ein Menschenleben.

2. Liebe und Abenteuer

Adnan 57

Ist Liebe immer Abenteuer? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube es. Wer wirklich liebt, aus ganzem Herzen und mit der Offenheit, die nur ein tiefes Gottvertrauen schenken kann, der geht ins Nichts. Und das bedeutet immer Abenteuer. Es ist immer ein neuer Weg damit verbunden — für das eigene Leben, manchmal sogar für die Menschheit. Wichtig ist, dass man überhaupt weiß, wofür man steht. Manchmal dauert es lange, das heraus zu finden. Doch ich finde mich in diesen Worten wieder — genau deshalb weiß ich nicht, wohin die Liebe und damit das Abenteuer führen.

Für den Reisenden gibt es nur einen Weg:

das Unbekannte zu erfahren,

das Ungewisse anzunehmen.

3. „Gegen-Beruf“

Adnan 118

Das Buch beinhaltet ein Nachwort: „Aufwachsen im Libanon, Schriftstellerin werden“. Das ist ist ein Kapitel, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte. Und natürlich verschlang ich es. Man kann nicht sagen, dass es irgendwie „wichtiger“ ist als das Buch an sich. Darum geht es nicht. Aber für mich war es beim Lesen gerade jetzt ein Segen. Ja, die Geschichte selbst ist wahrlich lesenswert. Aber das Lesen über das Schriftsteller-Werden ist etwas, das keine/n kalt lässt, der/die schreibt. Ja, Schreiben ist ein „Gegen-Beruf“. Und das kann es wohl nur sein, weil es eben kein Beruf im eigentlichen Sinne ist. Wahrlich, die meisten verdienen damit auch kein Geld, wie es ein Beruf eigentlich suggeriert.

Trotzdem kann man als Schreibende nicht anders. Ja, Schreiben ist „Lebenszweck“. Und Adnan trennt das Schreiben sehr genau vom „Lesen“, das im Libanon ihrer Kindheit und Jugend nicht verbreitet war, weil es schlichtweg an vielem mangelte — auch an Büchern. Ich kann das gut nachvollziehen. Ich liebe beides — das Lesen und das Schreiben — aber das Schreiben bedeutet mir mehr, obwohl es nicht ohne das Lesen und das Leben geht. Die Buchstaben auf dem Bildschirm entstehen zu sehen, das Klicken der Tasten zu spüren, das Versunkensein — nichts kommt diesem Schaffen gleich. Die Zeit und die Welt stehen still, während alles an einem vorbeirast.

Niemand kann einem Schriftsteller das nehmen. Auch Adnan führt die Ursprünge ihrer Schriftstellerei darauf zurück, dass sie Einzelkind war. Sie schuf sich ihre Welt(en) in der Phantasie, die doch nicht ohne reales Leben geht. Und sie beschreibt durchweg in diesem Nachwort ihre Liebe zur Literatur und später Philosophie. Ja, auch das alles kann man als „Reise“ umschreiben, wie sie es tut. Und Revolution ist immer dabei. Jeder Mensch, der etwas schafft, das vorher nicht existierte, lehnt sich gegen den Status Quo auf — ob er/sie es will oder nicht. Das ist herausfordernd. Das ist „Kunst“. Was die Menschen oft nicht sehen, ist, dass man sich dabei selbst ständig herausfordert. Oft riskiert man sogar sein Leben, wenn man eben in einem Land lebt, in dem Literaten verfolgt und ermordet wurden.

Sitt Marie-Rose in der Geschichte ist keine Schriftstellerin — sie ist Lehrerin und Aktivistin. Adnan war Schriftstellerin und Aktivistin und Lehrerin in der Hochschule. Manchmal, nein, genau in dieser Phase gerade, frage ich mich, ob wir, die wir schreiben, gar nichts anderes können, als Lehrer/innen zu sein — ob wir es wollen oder nicht. Menschen, die unsere Worte lesen und verinnerlichen, machen damit hoffentlich etwas. Und genau das ist das Ziel des Lehrens, oder nicht?

Danke, Etel Adnan.

Dein Buch hat mich

Zur rechten Zeit gefunden.

Was ich damit mache.

Ich weiß es nicht.

Ob ich jemals in de Libanon reise,

ich weiß es nicht.

Aber ich hoffe es.

Glaube, Liebe und Hoffnung.

Alle sind miteinander verwoben

Wie Dein Text.

Wie das Schreiben an sich,

das sich seinen Weg aus dem Herzen

auf das Papier bahnt.

“Die Welt eines Schriftstellers, auch wo sie ganz fiktional ist, und zumal die Welt eines Dichters besteht nicht einfach aus Luftschlössern. Die Kraft, die schöpferischer Arbeit zum Ausdruck verhilft, sogar der Inhalt schöpferischer Arbeit stammt aus Lebenserfahrungen, vielleicht auch aus genetisch vererbten Erinnerungen. Ich kann meine den Alltag bestimmenden Erlebnisse von dem, was ich schreibe und male, nicht trennen.” (Adnan 108)

Reflexionsfragen

1) Hast Du schon mal voll angezogen geschlafen? Welche Umstände haben dazu geführt?

2) Ist Liebe für Dich Abenteuer? Wenn nicht, was bedeuten die beiden Worte für Dich?

3) Kannst Du verstehen, warum Künstler/innen sich so schwer tun, andere Berufe als die Kunst auszuüben? Warum/nicht?

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