# 464: BOOK OF THE WEEK — “Verführung zum Guten”

Silke Schmidt
14 min readMay 7, 2023

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Erbele-Küster (2019). Verführung zum Guten: Biblisch-theologische Erkundungen zwischen Ethik und Ästhetik.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Dieses Buch war ein Geschenk; und zwar von der Autorin selbst. Soweit, so gut. Bei Geschenken weiß man ja nie so genau, ob sie jetzt Fluch oder Segen sind, schon gleich wenn sie einem als „Dankeschön“ für einen Vortrag überreicht werden. Bei diesem hier war ich mir sicher, dass es Freude bereiten würde. Aber ich war lange nicht bereit zum Lesen. Obgleich der Titel mich lockte und ich der Autorin zeigen wollte, dass ich mich für ihre Arbeit interessiere (war ich tue), so konnte ich es nicht lesen. Mir war nicht nach wissenschaftlicher Theologie. Punkt.

Diese Woche war das offensichtlich anders, denn das Büchlein, das ich seit mehr als einer Woche mit mir herumschleppe, rief danach, gelesen zu werden. Vielleicht ist es der wissenschaftliche Anteil in mir (der “männlich” rationale), der nun zu lange unterdrückt wurde, und sich nun wieder an die Oberfläche arbeitet, da einige Seelenwunden im Hinblick auf die Wissenschaft als solche geheilt sind. Vielleicht ist es aber auch die Tatsache, dass Theologie für mich der einzige Mittelweg zwischen Denken und Fühlen ist. Ich habe das schon einmal geschrieben und wiederhole es hier: Theologische Schriften sind vielfach, natürlich nicht alle, ein Genre für sich. Da schreiben Menschen auf eine menschlich berührende Art, die man so in kaum einem anderen Fach mehr antrifft. Und irgendwie hat diese Erkenntnis bzw. diese These schon viel mit dem Thema des Buches zu tun.

Erbele-Küster widmet sich der These, dass ästhetische Wahrnehmung „zum Guten bzw. zur Erkenntnis des Guten“ verführe (9). Das schreibt sie erfrischend klar und ohne Umschweife gleich im ersten Satz. Das ist genau deshalb so anregend, da man als Leser/in nicht lange herumrätseln muss, was nun genau der Punkt hinter der Überschrift ist, zumal Ästhetik und Ethik nicht gerade household terms sind bzw. eher sehr breit und damit schwammig (und “klare Thesen” sind trotz aller Qualitätsansprüche auch nicht der Standard in den Geisteswissenschaften!). Überhaupt ist dieses Büchlein sehr klar mit einer starken Stimme der Autorin. Sie argumentiert und plädiert für ihre Punkte. Der Titel der Reihe passt daher sehr treffend: Es geht um „Theologische Interventionen.“

Auch wenn ich nie Latein hatte, so kommt das vom Wort „dazwischen treten, sich einschalten“ (die lieben Theolog/innen mögen mir verzeihen an der Stelle, dass ich nicht mit Griechisch und Hebräisch ums Eck komme). Und genau dazu ist Wissenschaft da, aus meiner Perspektive jedenfalls, nicht nur die Theologie. Wenn sie keine Lücke findet in der Gesellschaft oder sich keine eröffnet, um ihre Stimme laut zu machen und den menschlichen Geist als Grundlage des Handelns zu erreichen — dann könnte sie auch weg bleiben. Das tut sie dann natürlich auch, wenn sie keiner liest. Aber dieses Heftchen eben lohnt, wahrgenommen zu werden — mit allen Sinnen. Auch das hat schon viel mit dem Inhalt zu tun.

Ich werde mich nicht in theoretischen Abhandlungen über Ästhetik und Ethik verlieren heute. Stattdessen möchte ich sehr punktuell einige zentrale Aspekte herausgreifen, die sehr mit dem Kern von Erbele-Küsters Thema zu tun und mich angefasst haben. Was uns anfasst, darauf reagieren wir. Ich reagiere hier weniger in der klassischen wissenschaftlichen Manier des „Angreifens, Verteidigens, Gegenargumentierens.“ Vielmehr möchte ich den Horizont weiten und einige Querverbindungen zu Themen und Menschen herstellen, die vielleicht auf den ersten Blick gar nichts hiermit zu tun haben. Und schließlich möchte ich eine Erweiterung des Denkens anregen, um doch mehr oder weniger wissenschaftlich das zu tun, was man Beitragen zum Diskurs nennt: Wissenschaftler/innen selbst aber auch alle interessierten Lesenden mit meinen Ideen zu neuen Erkenntnissen zu bewegen.

Damit muss ich direkt noch eine Vorbemerkung loswerden, bevor ich dann wirklich mit den ausgewählten Passagen starte. Erbele-Küster diskutiert die Ästhetik als Teil der „Lebenskunst“ (33) und verbindet hiermit den lebenspraktischen Aspekt der Ethik aber implizit auch der Bibel als Lebensratgeber an sich. Das Buch setzt diese Haltung, die ich als Selbstanspruch interpretieren würde, in seiner klaren Darstellung und dem Gegenwartsbezug um. Ich bin aber auch deshalb an dem Begriff der Lebenskunst hängen geblieben, weil ich gerade vor einigen Tagen meine Homepage neu gestaltet und getextet habe. Und unter einem der Zitate habe ich mich als „Lebenskünstlerin mit allen Sinnen“ bezeichnet. Das kam mir deshalb, weil ich schlichtweg mein Sein mit wenig anderem beschreiben kann.

Wenn man nicht den einen Beruf oder nicht das eine Identitätsmerkmal hat, mit dem man sich so identifiziert, dass man sich damit glasklar selbst beschreiben kann, dann bleibt einem „nur“ solch eine Umschreibung. Es ist die treffendste, die ich augenblicklich für mich finden kann. Und vieles von dem, was Erbele-Küster zur Sinneswahrnehmung und Weiblichkeit schreibt, deckt sich mit meiner (Selbst-)Definition. Die Lebenskunst gelingt nur, wenn die Sinnlichkeit frei sein darf. Wer seine Sinnlichkeit versteckt, hat keinen Kompass. Er lebt in Angst. Und Angst engt das Blickfeld. Und genau das ist die Blockade, die Kunst eben nicht ermöglicht (wobei ich die konkrete Definition meiner Begriffe hier bewusst der Intuition der/s Lesenden überlasse). Wie man als Individuum oder als Gesellschaft da (wieder) hingelangen kann, davon handelt das Buch aus meiner Sicht, auch wenn es in erster Linie die „Wissenschaft“ anspricht.

  1. Sinnlichkeit
Erbele-Küster 10–11

Der „Sündenfall“ — diesen Begriff kennen selbst Menschen, die nie etwas mit Bibel am Hut hatten. Er konnotiert so ziemlich das absolut Schlimmste, was ein Mensch je tun kann. Leider sind wir alle (im Westen) in einer Welt groß geworden, die dieses Dogma so verinnerlicht hat, dass es uns nicht auffällt. Das ist mit jedem Glaubenssatz so. In Deutschland sind die Nachkriegsgenerationen doppelt gepeinigt nicht nur mit der biblischen Schuld, sondern mit der Schuld der Nazimorde. Wenn man Theologie studiert, lernt man schließlich, dass sich irgendwie die ganze Struktur der Bibel an dieser Ursünde, an dieser Schuld, entlang hangelt. Alle Katastrophen, die das Alte Testament noch so aufbietet (Flut, Hunger, Plagen…), werden immer so interpretiert, dass sie eine „Folge“ der Sünde sind, die letztlich Eva zu verantworten hat.

Ist das so?

Natürlich ist das nur so oder so, wie man es gerade interpretiert. Forscher/innen der Gender und Diversity Studies wie Erbele-Küster haben schon vor Jahrzehnten angefangen, die Bibel und speziell Genesis 1–3 eben anders zu lesen — und zwar so, dass nicht Eva auf immer und ewig alle Schuld der Welt auf ihrem Buckel trägt. Eine alternative Lesart hierzu durch den Blickwinkel der Ästhetik und Ethik zu finden, ist letztlich Gegenstand des Buches. Und hier werde ich jetzt weniger nacherzählen sondern direkt meine eigene Lesart mit ins Spiel bringen, die noch einmal etwas anders als aber eben komplementär zu dem ist, was Erbele-Küster argumentiert. Denn hier steht schließlich das Fazit am Ende, dass die Sinnlichkeit, also das, was Eva den Apfel essen lässt, letztlich erst die Ethik mit ihrer handlungsspraktischen Unterscheidung zulässt. Dem stimme ich zu. Ich möchte aber noch weiter gehen.

Aus meiner Sicht ließe sich die gesamte Geschichte der Sinnlichkeit in der Bibel, so auch Genesis 2, als eine Bejahung der Sinnlichkeit (und zwar über die klassischen 5 Sinne hinaus, wie ich unten noch zeige) lesen. Mir geht es hier also gar nicht konkret um das, was daraus resultiert, also die Erkenntnis, und ob diese Erkenntnis nun zum Guten oder Bösen führt. Das sind schon menschliche Wertungen. Mir geht es schlichtweg darum, dass Eva ihrem Impuls der Sinnlichkeit (man könnte auch ‘Intuition’ sagen, wobei ich das noch separat erforschen muss, denn natürlich ist der Wortstamm anders) folgt. Will sagen: Die Sinnlichkeit siegt. Und das ist immer und immer wieder so, wenn jemand in der Bibel vermeintlich gegen Gottes Gebot verstößt und dann schließlich, so die populäre Lesart, in irgendeiner Art und Weise dafür bestraft wird.

Was Exegeten mit ihrer inhaltlichen Interpretation dann machen, ist logisch zu argumentieren. Wenn er/sie nicht dies oder das gemacht hätte, dann hätte Gott nicht dieses oder jenes „Gesetz“ oder Strafe ergehen lassen, um die Menschen auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Stopp! Was hier vergessen wird ist die Zeitlichkeit der Narration, die auch bei Erbele-Küster thematisiert wird an anderer Stelle, wenn auch mit anderem Fokus (27). Der Mensch ist schon geschaffen zu dem Zeitpunkt, als er dies oder jenes tut, so mein Argument auf Basis der Chronologie des Textes („sündigt“). Und immer steht am Anfang: Die Sinnlichkeit, das innere Verlangen, die Lust, die Intuition, der “Sechste Sinn”, ja, vielleicht die „Gier“ — was immer es ist, es ist im Menschen und treibt ihn an, neue Schritte zu gehen.

Das mag sich nicht „neu“ anhören, deshalb muss ich noch mal klarstellen, was aus meiner Perspektive „neu“ ist an meiner Lesart, die sicher auch schon irgendein anderer Wissenschaftler an anderer Stelle dargelegt hat (ich bin aber zu faul dazu, das zu recherchieren, das wäre ein Forschungsprojekt). Wenn wir davon ausgehen, dass Gottes Schöpfung gewollt ist. Das alles, was Gott erschaffen hat, genau so seine „Richtigkeit“ und „Gutheit“ (im Sinne von Hebräisch „tov“ = gut, nützlich) hat, dann ist die Sinnlichkeit gewollt, sonst würde sie schlichtweg nicht vorkommen. Und die Bibel lehrt uns immer und immer wieder, dass das so ist, dass der Mensch, anstatt sich dieser zu enthalten, ihr folgen SOLL. Ja, das hat Konsequenzen, die dann vom Menschen als gut oder böse interpretiert werden, ohne dass der Mensch dazu eigentlich in der Lage ist (man denke hier an die Fabel des chinesische Fabel vom Bauern und dem Pferd). Wichtig aus meiner mystischen Glaubenshaltung ist: Wer der Sinnlichkeit nicht folgt (und mit der Sinnlichkeit ist das Herz verbunden und die Entscheidungskraft, siehe unten), der lebt nicht. Der kreiert nicht, der beteiligt sich nicht an Schöpung. Der steht still.

Und jetzt komme ich zu einem aktuellen Beispiel von gestern, um das zu verdeutlichen, was ich hier darlege. Im Anschluss werde ich durchaus zurück zur Rolle der Frau/des Weiblichen kommen, falls der/die Lesende das an dieser Stelle vermisst. Gestern war die Krönung von Charles als König von Großbritannien. Abseits der Tatsache, dass das durchaus ein “christliches Ereignis” war (die Monarchie gilt als von Gott gesegnete Macht), habe ich mir das aus einem ganz einfachen Grund angeschaut: Die Geschichte dieses Mannes und seiner Familie bewegt mich seit Langem. Aber erst in diesen Tagen habe ich im Nachdenken über ihn und einige andere Geschichten, die mir diese Woche begegnet sind, etwas Zentrales verstanden: Die Liebe zwischen ihm und Camilla ist das, was man „wahr“ nennen kann. Und das wussten beide in dem Moment, in dem sie sich vor etwa 50 Jahren begegneten. Und nun kommt die Frage: Was wäre dieser Familie, diesen beiden Menschen, ihren Kindern, Diana und schließlich ihren Kindern und dem ganzen Land erspart geblieben, wenn diese beiden einfach nur eines getan hätten damals: Ihrer Sinnlichkeit zu folgen, d.h. zu ihrer Liebe zu stehen?

Es gibt und soll darauf keine Antwort geben, denn das Leben geschieht so, wie es gewollt ist. Trotzdem kann man für das eigene Leben lernen, was vielleicht etwas weniger Schmerz und Umwege bringt. Denn Gott hat uns eben das Herz gegeben, um mit ihm Entscheidungen zu treffen. Die Tatsache, dass beide damals offensichtlich noch nicht „bereit“ waren für diese Liebe zeigt auch, dass mindestens einer von beiden nicht seinem Gefühl getraut hat oder nicht in der Lage war, dazu zu stehen. Doch dieses Gefühl war offensichtlich so stark, dass es ein Leben lang gehalten hat, nur eben zunächst nicht gelebt werden konnte. Dafür hat der Kopf und die Welt immer gute Gründe parat. “Ich kann und darf diese Person nicht lieben weil er/sie… bestimmt nur geil auf die Krone oder mein Geld ist… zu jung/alt für mich ist…. nicht von meiner Familie akzeptiert werden wird… ein Mann bzw. eine Frau ist und ich einfach nicht schwul/lesbisch sein darf… mich bestimmt nicht wirklich liebt, weil ich gar nicht liebenswert bin…” Sprich: Es sind immer die Stimmen im Außen oder aus unserem “Verstand”, die uns von dieser inneren Stimme wegbringen. Und dann kommt es oft zu riesigen Katastrophen, zu „Sünden“, die größer gar nicht sein könnnten.

Und was hat das nun mit Genesis und Adam und Eva zu tun?

Das Beispiel mag vielleicht völlig abseits des theologischen Denkens liegen — auf den ersten Blick. Für mich ist es ein weiteres Indiz, dass Gott uns auf Basis der biblischen Schriften sagen will: „Folge Deinen Sinnen, Deiner Sinnlichkeit.“ Die besteht aus den fünf uns bekannten Sinnen. Die besteht aber auch aus dem „6. Sinn“, den man übersinnlich nennen kann. Dies ist die innere Stimme, die vom Herzen getrieben ist und erst das Wahrnehmen über die anderen Sinne ermöglicht. Alle zusammen bestimmen darüber, ob wir jemanden „riechen“ können und schon gar, ob wir ihn lieben. Um das aber jetzt nicht zu sehr zu vertiefen komme ich also nochmals zurück auf meine Lesart des Sündenfalls und stimme dem Kernargument der Autorin prinzipiell zu, trenne es jedoch nochmals von dem ethischen Element des Guten/Schlechten: Die Sinnlichkeit ermöglicht das Menschsein in seiner Tiefe, es ist die Grundlage für Erkenntnis jeder Art.

Bleibt noch die Frage: Warum ist das weiblich?

Auch darauf gibt es heute wissenschaftliche Antworten. Schaut man sich Studien zum Thema Hochsensibilität an, also die Eigenschaft, neurologisch bedingt eine noch stärker geschärfte sinnliche Wahrnehmung zu haben, findet man auch hier mehr Frauen als Männer. Schaut man in andere Glaubensrichtungen, allen voran die Welt des Tantras, wo die Balance zwischen männlicher und weiblicher Energie das zentrale Element ist, ist es das Weibliche, das die Verbindung zur Schöpfung herstellt und auch die Sinnlichkeit darstellt. Wichtig ist nur zu wissen, dass Männer und Frauen weiblich und männlich in sich tragen. Und genau das ist in der christlichen Lesart der Bibel verloren gegangen. Doch auch das ist nicht “die Bibel” an sich , es ist die Exegese, die das „macht“. Wenn wir die Geschichte des Essens vom Baum der Erkenntnis mit Distanz lesen, so ist es auch hier so, dass offensichtlich beide Anteile, weiblich und männlich, am Geschehen beteiligt sind und sein müssen, wobei das Weibliche den Prozess in Gang setzt.

Alles andere, die Wertung als Sünde und damit schlecht, ist menschgemacht. Nichts anderes sagt Erbele-Küster, wenn sie folgende Sätze von Michaela Bauks zitiert:

„Die Dialektik von menschlichem Erkennen und göttlichem Gebot mündet hier in ein Dilemma: Das Versagen angesichts der Entscheidungsfreiheit offenbart, dass der Mensch der Potenzialität des Bösen zur Potenz verhilft, ohne dass die Urteilskraft des Erkennens von Gut und Böse negativ wäre. Negativ ist nicht die Erkenntnis, sondern der Ungehorsam.” (62)

2. Herz als Verstand

Erbele-Küster 51

Diese Passage sagt im Kern nichts anderes als das, was ich vorher beschrieben habe. Trotzdem ist es noch einmal zentral darauf hinzuweisen, dass im Hebräischen Ursprung, das Herz eben den Verstand und damit das „Entscheidungsorgan“ bildet. Auch da ist die Bibel auf dem Stand der Naturwissenschaft heute: Wir treffen „gute“ also „stimmige“ Entscheidungen nicht mit rein logisch-rationalem Denken. Erstens ist das nicht möglich, denn unser Herz im Sinne von Emotionen ist immer beteiligt. Gleichsam wäre es Quatsch, das Herz auszuschalten, selbst wenn das ginge, denn der Mensch ist auf Beziehung angelegt und menschliche Beziehungen bedürfen der sinnlichen Wahrnehmung und davon ausgelösten Emotionen.

Jetzt mag man sich fragen: Was hat das mit Ethik und Ästhetik zu tun? Ganz einfach: Gutes und Schönes, was Ästhetik (auch) meint, hat immer auch Gefühle involviert. Wertungen werden durch Gefühle, also sinnliche Wahrnehmungen, geprägt. Und genau daher ist das Herz der zentrale Ort der menschlichen Schöpferkraft. Und genau das Herz wird kulturhistorisch in unseren Breitengraden als „weiblich“ gewertet. Und vielleicht ist es tatsächlich die Bibel, die fälschlicherweise eine Gesellschaft zutage gefördert hat, die das Herz, welches das Weibliche repräsentiert, in die Verdammnis geschickt hat seit eben jenem fehlinterpretierten Sündenfall. Und aktuell leben wir in einer Zeit, wo die Gesellschaft erkennt, dass uns dies nicht weiterbringt. Die These, dass die Weiblichkeit als schöperische Kraft fehlt, ist nur eine Seite. Die Erkenntnis aus der Bibel, dass damit auch vermeintlich „harte“ Faktoren wie Entscheidungsfindung einher geht, ist die noch wichtigere aus meiner Sicht.

Noch mal: Damit plädiere ich nicht dafür, dass mehr Frauen Entscheiderinnen in der Wirtschaft und anderen Branchen sein sollen (wogegen natürlich nichts spricht). Vielmehr geht es mir darum, die weibliche Kraft zu mobilisieren, die sich sozusagen verabsolutiert da versündigt hat. Ob das gelingt, dazu können eventuell Theologinnen wie Erbele-Küster einen Beitrag leisten, indem sie eben die Bibel neu und anders lesen; indem sie „sogar“ Ethik als Lehre vom guten Leben und Handeln neu definieren und die Grenzen zwischen weiblich und männlich neu abstecken. Dies gelingt aber nur, wenn sie sich selbst die nötige „Neugier“ zugestehen. Und auch das ist seit dem Sündenfall mit Scham behaftet.

3. Neugier

Erbele-Küster 63–64

Diesem Abschnitt geht Erbele-Küsters Erklärung der Ästhetik und der Lust am Lesen als Brücke zur Sinnlichkeit voraus. Ich möchte mich aber einzig und allein auf den Aspekt der Neugier in Bezug auf Sinnlichkeit und damit auch Weiblichkeit beschränken. Dafür braucht es nur eine Zahl: Laut Statistischem Bundesamt waren 2021 27% der hauptberuflichen Professorenstellen mit Frauen besetzt (https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/12/PD22_559_213.html#:~:text=Wie%20das%20Statistische%20Bundesamt%20(Destatis,akademischen%20Laufbahn%20noch%20%C3%BCberproportional%20vertreten). Und was hat das jetzt mit der Bibel und Sinnlichkeit zu tun?

Ganz einfach: Wissenschaft ist von Neugier getrieben — der “Gier” nach Erkenntnis, nach Wissen, aber eben auch nach “gutem” Wissen, jenem “nützlichen” Wissen, dass die Menschheit irgendwie voran bringt. Mit anderen Worten: Die Wissenschaft ist ein Sündengarten. Frau kann sich quasi kaum unbeschadet, also sündenfrei, retten, ohne von irgendeinem Baum zu kosten. Man muss aber angesichts der Zahlen sagen: Vielleicht geht es nicht allein um das Können, sondern auch um das Wollen. Gehen wir davon aus, dass Frauen viele Wege offen stehen heute, auch in der Wissenschaft, dann bedeutet die geringe Quote an Frauen in Führungspositionen in der Wissenschaft auch, dass vielleicht nicht so viele wollen wie vielleicht könnten (ich weiß, dass dieser Gedanke einige Frauen auf die Barrikaden bringen wird, aber es geht hier auch und gerade um unbewusste drohende Sündhaftigkeit). Ich empfehle an dieser Stelle auch einen wunderbaren Überblicksartikel zum Thema “Weibliche Identität und Macht” aus psychologischer Perspektive.

Ja, es war Eva, die nach der Erkenntnis strebte und vom Baum aß und die Erkenntnis kam — mit allen Konsequenzen. Die schlimmste ist wohl, dass sich heute noch immer Frauen für ihre „Neugier“ schämen und/oder zurückhalten. Das mag 1.000 andere Gründe haben, aber die Gier ist definitiv negativ besetzt in unserer Welt. Gier hat etwas mit Lust zu tun und das will Frau sich wortwörtlich vom Leibe halten, denn das ist schmutzig und sündhaft. Genau! Das sind Glaubenssätze aus dem Jahr 2023. Genesis bzw. das Alte Testament geht auf das erste Jahrtausend vor Christus zurück.

Offensichtlich bin ich mit meinem Beobachtungen und Gedanken vermeintlich weit von den Themen Ethik und Ästhetik weggekommen. Letztlich ist jedoch alles miteinander verbunden. Wenn Ästhetik breit definiert als sinnliche Wahrnehmung begriffen wird und dies die Grundlage für alle Erkenntnis ist, dann ist natürlich auch keine ethische Wertung dieser Erkenntnis in Gut und Böse möglich. Mir geht es aber mit meiner eigenen Neugier nicht allein um Ästhetik oder “theoretische Neugier”. Mir geht es um die Tatsache, dass wir noch immer in einer Welt leben, in der das Weibliche und das Männliche nicht im Gleichgewicht schwingen. Da müssen wir aber nicht in der „Gesellschaft“ anfangen. Da kann jeder bei sich beginnen und dem eigenen Handeln.

Ich habe im Kontext der Seelenheilung und teils in meinen Ausführungen zu buddhistischer Philosophie und Mystik schon ab und an darüber geschrieben, aber ich möchte es hier nochmals verdeutlichen und schließe daher mit einem weiteren zentralen Thema des Buches, das ich oben schon kurz angerissen hatte: der Lebenskunst. Kunst hat ein wie auch immer geartetes „Produkt“ zur Folge, etwas mehr oder weniger Materielles (und sei es ein Text, der auf Buchstaben beruht oder eine Theateraufführung, die nur im jeweiligen Moment des Hier und Jetzt existiert). Dahinter steckt Kreativität, was nichts anderes als Schöpfung ist. Sprich, es geht um Praxis; das Machen. Und das gleiche gilt für die Bibellektüre und ihre wissenschaftliche Exegese: Sie muss letztlich am Ende der Kommunikationskette einen Beitrag zur Glaubenspraxis leisten und zwar in einer Weise, dass die Lesenden in der Lage sind, das weibliche und das männliche Prinzip nicht allein der Erkenntnis, sondern des Lebens zu beGREIFEN. Wenn ein Buch wie dieses Hier auch nur zum Nachdenken dazu anregt, dass Jahrhunderte des Predigens über die Ursünde und den Fall als „weiblich“ eine Täuschung gewesen sein könnten, ist schon viel BEWEGT worden.

Reflexionsfragen

1) Was verbindest Du mit dem Begriff „Sündenfall“?

2) Macht die Formulierung „ein Herz zum Nachdenken“ Sinn für Dich? Warum/nicht?

3) Hast Du das Empfinden, dass Neugier etwas Schlechtes ist?

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