# 461: BOOK OF THE WEEK — “Basis Bibel: Ziele”

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Basis Bibel (2021). Deutsche Bibelgesellschaft.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Heute schreibe ich zum ersten Mal über die Bibel. Vielleicht habe ich das schon mal gemacht und ich habe es vergessen. Heute mache ich es bewusst. Ich muss es machen, auch wenn es sich komisch anfühlt — komisch und schön zugleich. Es ist wie mit der Liebe. Das Gefühl ist komisch, weil wir es nicht „verstehen“. Wir verstehen uns selbst nicht, wie wir so fühlen und sein können. Und doch ist es wunderschön, sich darauf einzulassen. Ja, genau darum geht es, um das Einlassen.

Ich weiß nicht, ob ich künftig nur noch über die Bibel blogge oder auch über andere Bücher. Wahrscheinlich werde ich beides beibehalten. Fest steht jedoch, dass heute etwas anders ist. Ich habe etwas begriffen, das ich schon oft begriffen hatte in schweren Momenten. Doch es brauchte wohl noch viele Umwege und Irrwege und viel Schmerz, um es wirklich zu verinnerlichen: Der Weg ist das Ziel. Andersherum möchte ich heute darauf fokussieren: Es gibt kein Ziel in dem Sinne, wie wir es „kennen“ aus der Welt. Uns wird täglich eingetrichtert, dass wir ein Ziel haben und benennen müssen, um loszulaufen. Wir müssen es sogar „SMART“ definieren und mit Daten und Deadlines versehen.

Die Wahrheit ist: Das ist Bullshit.

Ja, man muss Dinge manchmal fokussiert fertig bekommen. Aber glücklich macht einen das meist nicht. Es hilft dem Ego und einem gewissen falschen Selbstbewusstsein, damit wir uns sagen können: „Wir haben etwas geschafft. Wir können uns vertrauen“. Das ist schön, aber doch auch irgendwie gelogen. Denn Vertrauen heißt, dass man das Ziel nicht kennt. Vertrauen heißt, dass man irgendwann weiß, es gibt gar kein Ziel. Denn jede Einbildung, man kenne ein Ziel ganz genau, ist Selbstbetrug. Wir wissen in Wahrheit nie, wie eine Sache aussieht, bevor sie fertig ist. Wir wissen nie genau vorher, wie es aussehen wird, wenn wir am Reiseziel angekommen sind. Wir wissen nie genau, wie sich der Tod wirklich anfühlt. Wir wissen nie genau, wie sich unsere Berufung gestaltet, wenn wir sie mal ausüben.

Ja, Berufung…

Ich werde heute drei Bibelstellen zum Thema “Ziele” kurz besprechen, die meine Gedanken unterfüttern. Viel wird es nicht sein. Tiefe Erkenntnisse haben den schönen Vorteil, dass einem „die Worte“ fehlen. Man könnte auch sagen: Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Die vielen Worte, die aus einem heraus purzeln, deuten immer darauf hin, dass wir noch keine Klarheit gewonnen haben. Das wusste ich schon lange, aber ändern konnte ich es trotzdem nicht. Auch da war es so, dass ich wusste, ich muss den Weg weitergehen, auch wenn ich nicht „zufrieden“ war mit meinem Fortkommen. Es gab trotz aller Zweifel nur eine Richtung: nach vorne — wo auch immer das ist.

  1. Paulus
Basis Bibel 1833, Philipper 3,12–16

Paulus war einer, der in seinem „bisherigen“ Leben auch gedacht hatte, er wüsste, was er tat — er kannte sein Ziel, jedenfalls vermeintlich. Er wollte Christen verfolgen, um die Story mal ganz kurz zu machen. Und dann plötzlich war nichts mehr, wie es vorher war. Plötzlich fand er zu Gott und glaubte an Jesus. Das brachte ihm ein Moment in seinem Leben auf dem Weg nach Damascus. So wurde aus Saulus Paulus, das größte Marketingtalent der Christen aller Zeiten.

Für mich sind in der Passage aus dem Brief an die Philipper zwei Kerngedanken enthalten, die mich heute besonders berühren. Das eine ist die Tatsache, dass Paulus nicht behauptet, er habe es „schon geschafft“. Wir denken das so oft. Das geht aber nur, wenn wir eigentlich kein Ziel haben. Ist das ein Widerspruch? Was ich meine, ist einfach. Wenn wir ein Ziel im Auge haben, ein klar definiertes, mit einer Deadline im Kalender, dann können wir beim Erreichen „sicher“ sein, dass wir es erreicht haben. Ein paar Minuten später stehen wir dann oft schon vor diesem erreichten Ziel und uns wird klar, dass wir gar nichts erreicht haben. Vor uns liegt schon das nächste “Ziel”. Offensichtlich haben wir also das, wonach wir wirklich strebten, doch nicht erreicht.

Und was ist dieses Etwas?

Wenn wir wirklich nach dem „Glück“ streben, eigentlich nur ein anderes Wort für Liebe, dann treffen wir die Entscheidung, ins Nichts zu laufen. Wir wissen, dass es ein Weg der Veränderung ist. Wir wissen so vage, was wir wollen. Aber wir können es nicht sehen. Es gibt nichts „Konkretes“ zu beschreiben. Und wenn wir dann gewisse Sprünge mit uns machen; wenn wir gewisse tiefe Erkenntnisebenen erreichen, die uns die Welt und uns selbst völlig anders sehen lassen, dann meldet sich oft diese Stimme: „Jetzt bin ich am Ziel, schöner kann es nicht werden.“

DAS sind Ziele, die wir eben vorher nicht in den Kalender geschrieben haben. Trotzdem hatten wir sie. Sie kamen aus unserem Inneren — da wo Gott eigentlich wohnt. Und sie haben Erfüllung gebracht. Aber auch die ist nicht permanent. Schnell merken wir, dass da noch so viel zu erkunden ist — in uns selbst, in der Welt. Und es nimmt kein Ende. Und diese Endlosigkeit wie der Ozean, die macht einen manchmal fertig. Aber wir gehen den Weg weiter — ohne konkretes Ziel, wie wir es aus unserer Sozialisation kennen, aber mit einem inneren Verlangen, einer Anziehung, das Glück da zu suchen, wo wir nicht wissen, wie es aussieht. Das bringt auch Demut mit sich und aus dieser Demut heraus scheint Paulus zu sprechen wenn er mit anderen Worten sagt, dass er schon weit gekommen ist, aber eben auch noch viel vor sich hat.

Und damit ist der folgende Satz verbunden: „Aber ich tue eines: Ich vergesse, was hinter mir liegt. Und ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt.“ Wenn ich eines gelernt habe, schmerzhaft und mit vielen Tränen, aber mit noch viel mehr Freude nach dem Durchwandeln der Täler, dann ist es, dass es sich nur mit zwei Füßen laufen lässt (oder alternativ mit 2 künstlichen oder 2 Rädern, wenn man keine Beine mehr hat). Was ich meine: Man kann nicht mit einem Fuß in der Vergangenheit stecken bleiben und gleichzeitig voraus gehen. Das klappt bedingt am Anfang, aber irgendwann erkennt man, dass man sich nicht länger selbst betrügen und das Offensichtliche ignorieren kann.

Das mit dem „Vergessen“ ist dabei so eine Sache. Ich würde das so lesen, dass das tägliche Gedankenkreisen, das mit Erinnerungen verbunden ist, ein Ende nimmt. Man lässt los, man lässt Dinge und Menschen und Orte hinter sich. Man schleppt sie nicht täglich mit sich herum, genauso wie man die Kette von Toten irgendwann ablegen sollte, damit sie einen nicht täglich ans Grab erinnert. Und doch verlässt einen das Vergangene nicht komplett; soll es auch nicht. Vielmehr ist es zum festen Teil des Weges geworden, ohne den man jetzt nicht an die Stelle gekommen wäre, in der man in dieses tiefe Vertrauen in den Glauben geht. Da gibt es Weiterkommen, Bewegung, Entwicklung auf ein „Ziel“ hin, das doch so anders ist als alle anderen.

2. Anfang und Ende

Basis Bibel 1946, Offenbarung 22,12–13

Diese Verse sagen nichts anderes als ich oben beschreibe. Nur machen sie die Paradoxität dessen noch deutlicher. Etwas kann ein Ziel und ein Weg gleichzeitig sein. Das Alpha und das Omega stehen für den Anfang und das Ende, die Quelle und den See. Und gleichzeitig ist damit das Streben verbunden, sich dem zu nähern, was einige Jesus und andere Liebe nennen. Beides ist das gleiche. Bei beidem geht es nicht um eine Kopie, ein vages Konzept von etwas, das man auf der Welt nicht real findet. Im Gegenteil, dieses Licht ist in uns allen. Wenn wir nach innen schauen, erkennen wir es. Und je mehr wir dem Weg folgen, das wir Glauben nennen, wird das Licht heller, weil wir es selbst besser erkennen.

Doch was ist, wenn wir dieses Licht leibhaftig in einem anderen Menschen erkennen?

Ganz ohne Bibeltalk und Pfarrer

und abstrakte Konzepte.

3. Keine Furcht

Basis Bibel 1913–14, Johannes 4,17–19

Tja. „Vollkommene Liebe“ — Science Fiction aus der Bibel? Frag Dich selbst, wenn Du an den Menschen denkst, der Deine Seele komplett macht, der Dein Komplementär ist. Selbst wenn es diesen Menschen noch nicht oder gerade nicht mehr in Deinem Leben gibt, vielleicht hast Du eine Vorstellung, auch nur eine Phantasie. Und wenn Du jetzt an ihn oder sie denkst — was fühlst Du? Lachst Du? Strahlst Du? Leuchtest Du? Und dann? Ach, da sind auch andere Gefühle — welche? Setzt Dein Kopf ein und sagt: Das ist alles nicht wahr. Das ist alles nur in Dir. Dieser Mensch ist gar nicht so. Dieser Mensch liebt Dich gar nicht. Du verrennst Dich. Du bist doch alt genug. Kennst das doch. Erinnerst Du Dich nicht an die vielen Enttäuschungen, den Betrug, die Demütigung (da sind sie wieder — die „Altlasten“ der Vergangenheit). Du bist übergeschnappt — zu viel Bibellektüre, zu viele Depressionen verdrängt.

Diese Gedanken spiegeln Angst.

Das ist keine vollkommene Liebe.

Nicht zu Dir selbst.

Nicht zu anderen.

Aber das macht nichts.

Geh den Weg weiter; ohne Ziel, aber mit dem Wissen,

dass Liebe nur Liebe hervorbringt.

Angst bringt Angst.

Irgendwann ist nur noch Ersteres da.

Das gibt es ganz real.

Es braucht einen langen Weg.

Der lohnt sich.

Wie bei Paulus kommt man nie an. Aber man bewegt sich, man wandelt sich, man wird neu, lässt Altes hinter sich, trifft Menschen, die auch „neu“ geworden sind. Das gibt Mut und neues Leben. Und es bringt Liebe ins Leben, die vielleicht gar nicht so aussieht. Sie lebt nicht von Liebesgedichten, teuren Geschenken und heißem Sex. Sie lebt von täglichen Taten von Liebe genährt. In kurzem Lächeln, in klaren Worten, manchmal auch in Strenge und Mahnung — immer aber von Ehrlichkeit. Denn die Voraussetzung für Ehrlichkeit ist die Angstlosigkeit, zumindest annähernd. Ganz ohne Angst werden wir nie sein, sie gehört zum Menschsein dazu. Aber die Liebe ist das Einzige, was uns die Angst überkommen lässt. Wenn das kein „Ziel“ ist, das ohne Ego erst lebendig wird?!

Reflexionsfragen

1) Was denkst Du zu Menschen, die wie Paulus „neu“ werden und Altes hinter sich lassen, um Ziele zu verfolgen, die ihren alten widersprechen — glaubst Du ihnen und ihrer Wandlung?

2) Wie stehst Du zu dem Spruch „der Weg ist das Ziel“?

3) Hast Du schon mal jemanden geliebt und gleichzeitig Angst vor ihm/ihr gehabt? Was hat das mit der Angst zu tun, die wir manchmal vor uns selbst haben, z.B. wenn wir uns und unseren Gefühlen misstrauen?

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