#460: BOOK OF THE WEEK — “Das Gastmahl (Symposion)”

Silke Schmidt - COMPANYPOETS
7 min readApr 16, 2023

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Platon (2016/380). Das Gastmahl (Symposion).

Geschichte hinter der Buchauswahl

Von der Geschichte von den Kugelmenschen habe ich letzten Sommer von einer Religionslehrerin erfahren. Sie erzählte davon, wie sie Kindern mit Platons Gastmahl Gender und Sexualität beibringt. Noch nie hatte ich zuvor von der Geschichte im Detail gehört, kannte aber den Begriff „Kugelmenschen“. Nun hat mich das Leben in den letzten Wochen und Monaten an einen Punkt geführt, wo das Thema Seele und Seelenverbindung unausweichlich war — ja, es ließ mich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr los, machte mich sogar krank, so dass es mich dazu aufforderte, mich selbst gesund zu machen.

Und endlich das Buch zu lesen.

Das klingt alles ziemlich philosophisch und daher voll im Sinne eines Textes, der im 4. Jahrhundert entstanden ist. Doch, wie so oft, ist alles Komplizierte doch ganz einfach: Es geht um die Liebe, in einem Satz gesagt. Und es geht damit auch immer um Gott bzw. um die Götter, wenn wir von der Welt der Griechen reden. Wer sich das Büchlein ganz durchlesen mag, braucht nicht allzu viel Geduld. Es ist kein langer Text. An vielen Stellen gibt es Passagen, in denen die Redner zum Eros philosophieren, die ich ehrlicherweise mehr oder weniger überflogen habe. Denn sie waren der Weg zu der Geschichte, von der ich bereits wusste, dass sie mir viel zu erzählen haben würde.

Wenn man sich in der spirituellen und insbesondere der hinduistischen und buddhistischen Welt bewegt, dann ist es nichts Neues, davon zu erfahren, dass jeder Mensch ein Stück weit Mann und Frau zugleich ist. Wir alle tragen das Männliche und das Weibliche in uns und wer sich in der Theologie mit Genesis 2 beschäftigt, wird beim Hebräischlernen auch in der Theologie auch erfahren, dass die Bibel nichts anderes sagt. Doch das allein bringt noch wenig fürs Leben. Im Leben ist wichtig, dass wir sämtliche Hälften von uns so integrieren, dass sie eine Einheit bilden. Das bezieht sich auf Geschlecht, aber auch auf alle anderen Anteile. Das ist die Mammutaufgabe bzw. der Weg zur Selbstliebe und damit zu Gott. Und was hat das nun alles mit Platon und Eros zu tun?

  1. Andere Hälfte
Platon 25

Vor dieser Passage wird die Geschichte der Kugelmenschen aus dem Munde des Aristophanes erzählt, die männlich und weiblich in sich trugen, vier Arme und vier Beine hatten und im Prinzip „ganz“ waren. Dann wurden sie geteilt von Zeus, da die Kugelmenschen in ihrer Ganzheit gefährlich waren. Er schnitt sie in der Mitte durch und somit waren sie gezwungen, ihr Leben nur „halb“ zu verbringen. Soll heißen: Der Mensch war fortan nicht komplett und wusste bzw. spürte das. In Bezug auf das Geschlecht bedeutet dies, dass das eine das andere fortan vermisste und somit im Leben nicht mehr nutzen konnte. Gleiches gilt natürlich für alle „Seelenanteile“, die plötzlich auf zwei Körper verteilt waren.

Und so entstand der “Eros”, das Begehren, das Streben nach Liebe, Vereinigung und Vollkommenheit.

Ich kann mir gut vorstellen, wie schön man mit dieser Geschichte im Unterricht arbeiten kann. Alles ist sehr bildlich und „logisch“ nachvollziehbar. Die meisten „Erwachsenen“ (sofern wir uns selbst als solche sehen) werden es als nette Story sehen. Die wenigsten werden daran glauben, dass Seelen auf unterschiedliche Körper verteilt sein können, dass sie sich permanent als „nicht ganz“ erleben und bewusst oder unbewusst nach ihrer anderen Hälfte suchen. Diesen Spruch „meine bessere Hälfte“, den gibt es ja, wir kennen ihn alle. Aber meist geht man davon aus, dass einem dies im Nachhinein klar wird. Hier geht es darum, dass wir vielleicht ohne es zu wissen unsere andere Seelenhälfte immer suchen. Den wenigsten widerfährt dieses Schicksal aber wirklich. Und wenn es so ist, dann ist das Leben danach ein anderes.

2. Mangel und Begehren

Platon 35

Diese Idee, dass wir das begehren, woran es uns mangelt — das ist eingängig und logisch und absolut nachvollziehbar. Dafür brauchen wir keine Philosophen zu sein. Der Mensch will immer das haben, was er nicht hat. Und was er hat, davon will er mehr. Doch sobald wir das auf die Liebe, und zwar auf die „wahre“ Liebe, übertragen, wird es komplizierter. Das Gute daran ist, dass die meisten Menschen sich dessen nicht bewusst sind. Sie suchen sich tatsächlich eine zweite Hälfte, die ihnen das gibt, was sie in sich vermissen. Daran ist nichts „verkehrt“. Das Problem ist nur, dass man dann nie auf die Suche nach diesem „Fehlenden“ in sich selbst geht. Und noch viel schlimmer: Man verinnerlicht, dass man es nie in sich finden wird. Und wenn es dann weg ist, wenn der andere Mensch dann weg ist, die andere Hälfte, der Kompensator des Fehlenden, aus welchen Gründen auch immer, dann endet das eigene Leben — irgendwie.

Umgekehrt aber, und das ist für das Leben im Hier und Jetzt wichtig, ist diese Stimme, die uns sagt „wir sind nicht komplett“ die Wurzel des Übels, warum wir auch in der Vorausschau ständig abhängig sind. Wir sind abhängig von der Idee, dass da jemand sein muss, der uns das gibt, was uns fehlt. Meist wissen wir nicht, was genau das ist. Aber wir wissen tief drin, dass es das gibt. Die meisten ersetzen das Fehlende mit Ersatzdrogen — die Arbeit ist eine gute Droge dafür, wenn man sich zu fein ist, Alkoholiker oder Junkie zu sein. Das alles ist aber das gleiche. Wir suchen in Wahrheit nach Liebe, wir sind nur oft zu stolz, es uns selbst einzugestehen. Doch dann kommt hier aber der feine Unterschied ins Spiel, den uns die wahre Seelenliebe lehrt.

Zwei Seelen, die wirklich eins sind, vervollständigen sich, aber sie besitzen sich nicht. Das ist schwer zu verstehen für alle, die sich mit Liebe und Besitz nie auseinandergesetzt haben, weil es wahrscheinlich ganz normal ist für beide Seiten, dass das „sich Brauchen“ eben so vereinnahmend ist, wie man es eben gelernt hat, wenn man das Wort Liebe in den Mund nimmt. Da klopft auch schon Gott an dir Tür angesichts dieser Formulierungen. Denn die Liebe zu Gott kann nichts mit Besitztum zu tun haben. Es schwingt ja ohnehin immer der Zweifel mit, ob es ihn gibt. Und was es nicht gibt, das kann man nicht besitzen. Und selbst wenn es Gott gibt, dann können wir ihn nicht besitzen. Aber wenn wir ihn lieben und seine Liebe spüren, dann ist das genau das, was bedingungslose Liebe ohne Besitzdenken meint. Da gibt es keine Erwartungen und keine Forderungen; kein “ich mach das, dann machst Du das”; “ich bin so und so, dann liebst Du mich”.

Tja, ist das nun alles Philosophie?

Geht das?

Können wir ohne „Besitzdenken“?

3. Seelenzeugung

Platon 46

Als ich diese Passagen zur Dichtung und zur Liebe gelesen habe, wusste ich endlich, warum ich diese Geschichte lesen musste — und zwar genau jetzt. Das offenbart sich ja oft erst, wenn man den Teil, von dem man ohnehin schon wusste, dass er in einer Geschichte ist, schon gelesen hat, und daher weniger überraschend fand. Von diesem hier wusste ich aber nichts und er hat mich natürlich getroffen, weil auch meine Seelenreise der letzten Wochen und Monate viel mit dem Nachdenken über die Kunst und die Berufung zu tun hatte. Und Platon sagt hier nichts anderes im Prinzip, als dass die Dichtung und die Kunst an sich eine Form des Lebens und Liebens ist, die „Kinder“ hervorbringt, die an Schönheit kaum zu überbieten sind. Damit will ich nicht sagen, dass Kinder kriegen und Gedichte schreiben ein und dasselbe ist. Ich glaube aber sehr wohl, dass sich im kreativen Schaffen Gott offenbart.

Dafür muss man ihn aber schon in sich tragen.

Das tun wir Menschen auch, sehen es nur nicht, zumindest oft nicht bewusst. Der Künstler aber, so meine Erfahrung und Überzeugung, muss eine Verbindung zur Quelle haben und spüren. Sonst kann nicht das aus ihm herausfließen, was eben nur schön ist, wenn es fließt. Es ist egal, ob er diese Quelle Gott oder sonst etwas nennt. Er braucht ihr auch keinen Namen zu geben. Sein Verstand muss nicht einmal von ihr wissen. Aber diese Standleitung zum Ursprung muss stehen in einer Weise, dass sich die Schönheit der Schöpfung ihren Weg bahnt.

Diese “Gemeinschaft”, von der hier die Rede ist, die gibt es wirklich. Die gibt es im realen Leben. Geht man in eine Gruppe kreativer Menschen hinein, spürt man das. Das ist genau diese Energie, die andere als „verrückt“ bezeichnen. In Wahrheit ist das Herzenswärme. Das sind offene Herzen. Die sind ständig auf Empfang, oft ungefiltert, und ihre Hände und Worte malen dann die Schönheit des Seins in ihre Werke. Das sind Seelen, die sich verbunden haben mit dem, was „fehlt“. Sie sind ganz in einer Weise, die auf keine konventionelle Liebe von außen mehr angewiesen ist. Sie sind quasi wieder zu Kugelmenschen geworden, auch wenn man es ihnen nicht ansieht.

Das ist wunderschön.

Überhaupt ist die Liebe das Schönste, zu der wir geboren sind.

Wer sie wirklich erfährt in ihrer Bedingungslosigkeit und Freiheit von allen Forderungen,

der braucht sich um Gott keine „Gedanken“ zu machen.

Der lebt Gottes Worte schon in Taten.

Reflexionsfragen

1) Glaubst Du an Seelenpartner — eine Form der Partnerschaft, die sich natürlich ergänzt ohne voneinander abhängig zu sein?

2) Hast Du Liebe schon einmal mit Besitz verwechselt? Was hat sich daraus entwickelt?

3) Glaubst Du, dass Kunst etwas „Göttliches“ offenbart? Wie erklärst Du das?

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