# 455: BOOK OF THE WEEK — “Leiden”

Silke Schmidt
7 min readMar 12, 2023

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Sölle, Dorothee (1989/1973). Leiden.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Die Frage nach dem Leiden scheidet die Geister. Sie scheidet jene, die an Gott glauben und jene, die vielleicht glauben wollen, aber nicht können. So fundamental wie das Thema ist, so einfach ist auch der Titel von Sölles Buch. Offensichtlich habe ich mich in den letzten Wochen, gerade auf meiner Reise, wieder in Sölle vertieft. Das ist einfach, denn jedes Buch ist voller Überraschungen. Man weiß nicht, was einem genau begegnet. Nur weil ein bestimmtes Thema auf dem Cover steht, bedeutet es nicht, dass sich Sölle schmalspurig mit diesem Thema und nichts drumherum beschäftigt. Und genau das ist, was mich an Theologie fasziniert. Sie ist nicht einspurig und alles ist miteinander vernetzt — wie das Leben eben selbst. Nur sehen das viele nicht so und noch viel weniger beschreiben sie es so vielschichtig und anschaulich wie Sölle.

Es war auch ein Hilfeschrei meinerseits, dieses Buch auf der langen Reise nach Australien im Rucksack mit herum zu schleppen. Aber ich musste es tun, auch wenn ich bis zum Rückflug nicht wieder lesen konnte, zumindest nicht konzentriert. Ich sollte so etwas hier nicht schreiben, denn es deckt vieles auf, was viele Autoren lieber für sich behalten — Einblicke in das eigene Leben nämlich. Sölle ist davor nicht zurückgeschreckt, ich tue es ihr gleich. Wer nicht den Mut hat, das Leben gegenüber anderen zu entfalten und Menschen in das Erfahren hinter dem Denken Zugriff zu geben, der wird selten berühren. Und wir Menschen sind auf Berührung aus, ob wir wollen oder nicht und ob wir uns in schicke Anzüge stecken und hinter Titeln verkleiden — wir alle sind Menschen, die auf menschliche Beziehung angelegt sind. Erst diese Beziehungen lassen uns leben und eben leiden.

  1. Befreiung
Sölle 105

Wie im Leid Befreiung liegen kann, allein die Fragestellung mögen viele als pervers ansehen. Es hat hier sadomasochistische Züge. Wer sich allerdings näher mit dem tiefen Leid im Kontext der Spiritualität beschäftigt, begegnet häufiger Schilderungen wie denen von oben — von einem Häftling im KZ 1945. Keiner, der dieses Leid nicht selbst ertragen hat, kann sich vorstellen, was es bedeutet, gefoltert zu werden, anderen beim Sterben zuzusehen und auf den eigenen Tod zu warten — und zwar einen qualvollen, wie den von Jesus am Kreuz. Und doch passieren in diesem Momenten eben Dinge, die nicht rational, vielleicht annähernd psychologisch und physiologisch, erklärbar sind. Und genau davon handelt diese Passage, in der sogar das Wort „Erleichterung“ vorkommt.

Vor einer Weile habe ich länger über dieses Wort nachgedacht. Das Gefühl von „Leichtigkeit“ benutzen wir ja häufig nur metaphorisch. Oft ist es eher das Konzept als das körperliche Gefühl, was uns denken lässt, dass dies der passende Ausdruck ist. Aber wahre Erleichterung verändert das Körpergefühl. Man fühlt sich im GANZEN leicht, nicht nur im Kopf von einer Bürde befreit. Erleichterung schafft Platz für das Wesentliche und erstaunlicherweise ist es die Liebe, die dann Platz hat, sich zu entfalten.

Man könnte nun wieder und wieder die Frage stellen, warum das so sein muss, dass man erst im extremsten Leiden bis knapp vor den Tod diese Form der Befreiung und die damit einhergehende Erleichterung spüren kann. Darauf habe ich natürlich keine Antwort und will sie gar nicht geben. Ich frage nur stets danach, was die Kenntnis dieser Erfahrungen — sofern wir ihnen ein bisschen Glauben schenken wollen — mit uns macht. Und für mich ist es einfach auszudrücken: Sie geben mir Hoffnung. Und diese Hoffnung ist nicht nur auf der Erfahrung anderer gegründet. Sie beruht auf Erlebtem und gleichsam lässt sie mich hoffnungsvoll in die Zukunft schauen. Es kann sein, dass es Leiden geben wird, das mich umbringt. Solange das aber nicht so ist, weiß ich, dass das Leiden mir Momente der Befreiung und Erleichterung schenken wird, die mich verändern.

Und die Liebe für das Leben und die Menschen, die daraus resultiert, kann mir niemand mehr nehmen.

Ich kann sie nur verdrängen oder aus dem Blick verlieren, wenn ich zu viel auf andere und anderes höre.

Aber auch das kann man lernen, mit der gleichen Liebe abzuschalten.

2. Handeln in Liebe

Sölle 154

Der entscheidende Aspekt ist für mich hier die „Veränderung“. Wie bereits letzte Woche im Kontext von Sölles Buch Das Recht ein anderer zu werden beschreiben, liegt der Zauber des Glaubens darin, Veränderung auszulösen und nutzbar zu machen. Dieser praktische Aspekt mag funktional oder gar utilitaristisch klingen, was mir ziemlich egal ist. Für mich ist, und das kristallisiert sich im Laufe der Beschäftigung mit der Theologie, im Ringen um eine eigene Theologie, der praktische Wert des Glaubens immer mehr heraus. Dieser ist zwangsläufig politisch, genauso wie die Bibel politisch für mich ist. Nichts Soziales findet ohne Politik statt, wobei ich jetzt hier nicht in eine theoretische Abhandlung über das Wesen der polis abdriften möchte.

Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, was passiert, wenn sich die eigene Sicht auf die Welt ändert (rational) und eine tiefe Liebe (emotional) das Leben und Handeln neu bestimmt. Ich bleibe da leider sehr hart und behaupte, dass sich die wahre Veränderung des Menschen nicht allein an der inneren Haltung ablesen lässt, sondern zwangsläufig im Handeln. Ein veränderter Mensch, ein von Liebe motivierter Mensch, will Handeln. Er erkennt, dass alles Denken und Reden zwar seinen Sinn und zweifelsohne Berechtigung haben, aber nur im Handeln wird diese Liebe anderen zuteil. Damit ist nicht gemeint, dass wir alle Pfarrer oder Sozialarbeiter werden oder für die Diakonie arbeiten. Es muss gar kein äußerlich anderes Handeln sein. Es wird aber das „wie“ unseres Handelns verändern. Und in diesem Wie werden andere von der genuinen Liebe berührt, die irgendwo mal ihren Ursprung in tiefem Leid nahm.

Wenn man mich fragt, ob gelebter Glaube ohne Leid möglich ist, dann muss ich leider sagen, dass ich das nicht glauben kann. Denn nur das Leiden erlaubt es uns, unser kleines oder großes Ego zu überkommen und uns im Anderen zu erkennen. Erst wenn wir diese Einheit erkennen und spüren, sind wir wirklich bereit, loszulassen vom alten Ich. Nur dann sind wir auch in der Lage, „eine bessere Liebe“ aufzubringen, wie es Sölle hier sagt. Und mir ist wichtig zu unterstreichen, was sie in dem Zuge anfügt, nämlich dass es nicht der Glaube an Gott oder Christus sein muss, der daraus folgt. Es gibt sehr viele „Erleuchtete“ unter uns, die diese Erfahrung nicht Christus zuschreiben. Pragmatisch gesprochen, ist mir das wurscht. Auch sie sind von der gleichen Liebe getragen, die es dann erlaubt, die Welt wirklich zum Guten zu verändern. Darauf kommt es schließlich an und darin ergibt sich die Einheit der Menschen und Dinge, die täglich von Wissenschaft und Rationalität künstlich in ihre Einzelteile zerlegt wird.

3. Mystik

Sölle 156

Eigentlich bräuchte es diesen letzten Abschnitt zur Mystik gar nicht, steht doch alles oben bereits Beschriebene unter dem Einfluss von Sölles Mystik und meiner eigenen. Trotzdem füge ich ihn an, denn es gibt einen wesentlichen Gedanken dazu, der sich mir erst kürzlich erschlossen hat. Ja, ich denke weiter, dass mystische Erfahrung unter allen Erfahrungen des Menschen, jene ist, die die Bedeutung von Liebe und Glück am nachdrücklichsten und verändernsten vermitteln kann. Diese Erfahrung ist irreversibel und nimmt die Angst, die den Menschen vor so vielem lähmt.

Trotzdem, und ich denke darin liegt ein entscheidender Unterschied zum Christentum, ist der mystische Moment der Erleuchtung nicht dauerhaft. Er kann es auch nicht sein, denn dann würde der Erleuchtete verhungern und verdursten in Einsamkeit. Er ist daher, und hier kommt der von Sölle angesprochene Begriff der Hoffnung hinein, ein Anstoß und ein Zukunftsszenario, dem sich der Mystiker im Hier und Jetzt widmen kann, getragen durch die mystische Einheitserfahrung. Damit wird aber nicht das „Ziel“ verfolgt, dem Leiden, das in der mystischen Erfahrung verschwindet, auf Dauer zu entkommen — ja gar von einer leidensfreien Welt nicht nur zu träumen sondern auszugehen.

Das Christentum tut dies nicht. Es ist durch das Symbol des Kreuzes untrennbar mit dem Leiden verbunden. Und wir begegnen diesem Leiden täglich in unserem eigenen Leiden und dem der anderen. Beides ist nicht trennbar, wie Sölle wiederholt aufzeigt. Und vor allen Dingen liegt darin auch der Sinn, zumindest für mich, die mystische Erfahrung in Form einer nicht-stillbaren Hoffnung und Liebe nutzbar zu machen. Wir können das Leiden nicht abstellen und den ganzen Tag allein meditieren, um sich diesen Zustand selbst zu schenken (was durchaus möglich ist), kann für mich persönlich nicht der Weg sein. Dann hätte ich mein Leben vertan und nicht gelebt.

Ja, Lachen und Weinen haben ihren Platz und sind Gott gewollt. Und ja, für mich möchte Gott nicht, dass ich allein im Mitleiden für andere mir selbst alle Momente des Glücks nehme. Denn mir ist das Geschenk zuteil geworden, mich nicht für den angepassten Lebensweg zu entscheiden und mich, durchaus leidend, für gewisse Veränderungen einzusetzen. Das mag ich verteufeln in vielen Momenten, aber es gibt mir Trost, dass das so gewollt ist. Und das Christentum bietet unter allen „Institutionen“ und „Parteien“ zumindest eine Heimat, in der sich Gleichgesinnte darin verwirklichen können, nicht um ihrer selbst willen, sondern getrieben von ihrer tiefen Liebe.

Sie allein macht den Menschen zum Menschen.

Ohne sie ist alles nichts.

Ohne sie wäre ich nichts.

„Der christliche Gott ist kein kleiner chinesischer Glücksgott, wie Brecht ihn lobte, in dessen Reich es möglich ist, mangel- und leidfrei zu bleiben. Alles dies hätte Jesus, Brote vermehrend und Kranke heilend, ja auch haben können. Jesus hat sich statt dessen mit den Leidenden identifiziert und ist um ihrer Krankheiten willen krank geworden; um der Leidenden willen ist er beleidigt worden, um den Tod zu überwinden, ist er, wie alle, sterblich geworden. Sich auf den Weg Jesu einzulassen bedeutet, auch am Paradox festzuhalten.“ (Sölle 2013)

Reflexionsfragen

1) Hast Du mal eine extreme Leidenssituation durchgestanden, die sich im Nachhinein auch befreiend anfühlt?

2) Würdest Du von Dir selbst sagen, dass Du dem Leiden um Dich herum bewusst Aufmerksamkeit schenkst oder versuchst Du, es eher nicht an Dich heran zu lassen?

3) Was machst Du mit der These, dass alles Leiden der anderen auch Dein Leiden ist? Ist Christentum untrennbar mit Leiden verbunden aus Deiner Perspektive?

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