# 454: BOOK OF THE WEEK — “Das Recht ein anderer zu werden”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Gleich zwei Bücher von Sölle hatte ich mit im Australiengepäck. Und ich bin froh und glücklich, dass ich sie endlich gelesen habe. An dieses hier hatte ich große Erwartungen und wie immer, wenn man diese hat, werden sie nicht erfüllt. Das heißt aber nicht, dass sich das Lesen nicht „gelohnt“ hat. Das heißt nur, dass ich noch nicht offen war zum Lesen. Eine lange Strecke des theologischen Ringens liegt hinter mir und die letzten Wochen mussten einen Sprung bringen. Das hatte ich gefühlt. Nur kann man Sprünge nicht herbei hexen. Sölle hat mir auf dem Weg geholfen. Überhaupt ist Sölle ein Segen. Und sie macht Mut, den eigenen theologischen Weg weiter zu gehen, eben weil er so zweifelbehaftet und steinig ist. Eines aber muss er unbedingt sein: unangepasst.
So war Sölle.
So war Jesus.
Und so dürfen wir auch gern sein, wenn es in uns steckt.
- Schuld
Letztes Jahr bin ich einen Gottesdienst hinein gekommen und das Erste, was die Prädikantin uns entgegen warf, war, dass wir unsere Schuld bekennen sollten. Das ist schön und gut und theologisch bzw. liturgisch erklärbar. Praktisch hätte ich ihr an die Gurgel hüpfen können. Das war genau das, was ich nicht an Kirche leiden mag. So etwas bringt noch mehr Leid zu den Menschen, die schon beladen kommen. Und ja, im Schuldbekenntnis ist auch etwas Befreiendes. Aber man muss nicht mit der Tür ins Haus fallen. Und vor allen Dingen macht man damit genau das platt, was Gott und Glaube eben auch und aus meiner Sicht noch viel mehr sein sollen und können: Trost und Zuversicht und der Glaube an sich selbst als geliebten Menschen.
Man muss sich mal vorstellen, dass Sölle diese Zeilen oben 1981 veröffentlicht hat. Man darf sich weiter vorstellen, wie sehr sich dieses Thema „Leistungsgesellschaft“ und Multioptionsgesellschaft heute potenziert hat. Wir dürfen und müssen so viele Entscheidungen treffen, dass wir bei Schritt und Tritt das Gefühl haben, dass wir nur Fehler machen können. Das hört nicht auf, solange wir ohne inneren Kompass entscheiden und leben. Und dieser innere Kompass kann und darf, aber muss nicht, der Glaube sein. Ob das der Glaube an Christus oder eine andere Religion ist, sei dahingestellt. Sölle selbst wurde immer mehr von der Mystik angezogen und darin gibt es nur die Einheit. Was ich aber sagen will: Sie legt hier bereits früh den Finger in eine Wunde, die seither immer weiter auseinander geklafft ist.
Es stimmt, dass jeder reflektierte Mensch unweigerlich bei der Schuld endet. Wir sind keine Propheten und machen ständig etwas, das irgendwann mal irgendwelche Konsequenzen hat, die wir nicht absehen konnten. Darin liegt aber auch die Schönheit des Lebens. Wir sind täglich mit seiner Fülle konfrontiert und dürfen uns glücklich schätzen, dass wir in so vielen Dingen die Wahl haben. Und ich denke, Gott hat uns dieses Spielfeld auferlegt, damit wir ihm mit jeder „falschen“ Entscheidung näher kommen. Es gibt nämlich in Wahrheit keine falschen Entscheidungen. Es gibt nur gelebtes Leben. Und wer keine Entscheidungen trifft, der hat nicht gelebt. Und wer nicht weint, der hat auch nicht geliebt. Ob es nun eine gescheiterte Ehe oder eine Freundschaft ist, der Verlust von Dingen oder das Loslassen von Idealen — wir lernen so Schritt für Schritt, dass es nur einen Kompass gibt, der uns wirklich GUTE im Sinne von stimmige Entscheidungen gibt: unser Herz.
Und immer wenn wir Dinge mit Herzenswärme entscheiden, dann begegnen wir Gott.
Da ist die Fülle und die Freude.
Und das braucht manchmal eine harte Schule, um dahin zu kommen.
2. Liebe
Wer Theologie studiert, lernt viele theologische Schriften kennen. Was dabei manchmal verloren geht: Der Kern des Evangeliums, des Glaubens, der Spiritualität. Dieser Kern kann mit einem Wort zusammengefasst werden: Liebe. Das kann man nicht verstehen im Sinne von rational ergründen. Wer auch immer schon einmal wirklich geliebt hat, weiß, was das Wort bedeuten kann. Es kann nur durch das Leben selbst mit Bedeutung gefüllt werden. Und genau das kann jeder weitergeben im täglichen Leben. Denn Gott, so meine Theologie, hat uns liebesfähig gemacht, um das Wort im Handeln mit Leben zu füllen.
Was ist dann mit denen, die nicht mehr an die Liebe glauben?
Es ist genau andersherum, würde ich meinen. Der Glaube ist zuerst da. Und wenn wir die Liebe aus uns heraus leben, dann kann sie auch in unterschiedlichen Formen zu uns persönlich kommen. Damit meine ich auch im Sinne von körperlicher Liebe. Ich denke, die Annahme eines Menschen in seiner Ganzheit ist etwas, das uns Liebe in einer anderen Dimension eröffnet. Oft ist es so, dass dieses Fenster sich irgendwann wieder schließt, weil das Leben das mit uns macht. Damit verschwindet aber nicht die Erfahrung an sich. Und die ist „wiederholbar“. Es gibt jeden Menschen nur einmal, aber es gibt unterschiedliche Seelen, die sich finden und gemeinschaftlich aneinander in Liebe wachsen können.
Wir sind auf der Erde,
um zu lieben
und geliebt zu werden.
Das ist der Sinn unseres Daseins.
Unsere Liebesfähigkeit am Leben zu halten,
sie zu nähren,
das ist unsere Aufgabe
und unsere Freude.
Daraus darf kein Zwang werden
und kein Helfersyndrom.
Nur unser Herz kann uns leiten,
auf diesem Pfad der Liebe zu bleiben.
3. Veränderbarkeit
Dieser Punkt ist für mich ganz eng mit dem ersten Thema, der Frage der Schuld, verbunden. Wenn ich mich schuldig fühle, dann frage ich mich, ob ich nicht immer wieder in die Falle tappe; ob ich nicht immer wieder Fehler mache, die mich zu einem „schlechten Menschen“ machen. Einerseits können wir diesem Umstand „entspannt“ mit Luther begegnen und wissen, dass das einfach so ist, dass unsere Sündhaftigkeit genauso wie unsere „Heiligkeit“ im Wechselspiel uns erst zum Menschen werden lässt. Damit kann sich aber auch ein Hamsterrad im Kopf bewegen, das uns letztlich daran verzweifeln lässt, dass es keine Entwicklung gibt, dass wir nicht vom Fleck kommen.
Ich denke, was Sölle hier schreibt bzw. antwortet, ist ein Axiom, das uns das Leben im Glauben lehren kann. Dazu reicht nicht das Lesen von Geschichten wie „vom Saulus zum Paulus“. Ich glaube, wir müssen und dürfen an uns selbst beobachten, dass wir „besser“ werden können im Sinne von anders. Genau das ist es ja, worum sich Sölle in diesem Buch kümmert. Teilweise macht das Leben das mit uns ganz automatisch. Teils kann uns der Glaube aber darin stützen, diese Anderswerdung bewusst voran zu treiben. Dann machen sich Tore weit auf, die wir zuvor nicht gesehen haben.
Für mich ist dieser Aspekt auch deshalb ein wesentlicher, weil nur er es uns erlaubt, aus dem Gefängnis der Vergangenheit auszubrechen. Wenn wir immer und immer wieder an unser altes „Ich“ denken und sei es in bereuender Schuld, dann leben wir auch im Hier und Jetzt ein Stück weit diese Vergangenheit weiter. Und damit verspielen wir das Glück des Augenblicks, das uns geschenkt wird. Das können wir nur sehen, wenn wir uns auch selbst jeden Tag wieder neu begegnen und uns liebend annehmen. Wenn wir uns nicht selbst zutrauen, ein anderer zu werden, dann können wir das schon gar nicht anderen Menschen ans Herz legen.
Das betrifft vielleicht Pastoren in besonderer Weise. Das betrifft uns aber auch alle. Wir lernen, dass wir andere nicht verändern können. Aber mit unserem eigenen SEIN, mit der Liebe für unser eigenes Leben, können wir Saatkörner verstreuen. Und manchmal geht diese Saat dann irgendwann auf. Dafür brauchen und können wir nichts weiter tun als unser eigenes Glück und unsere Freude zu leben. Und vielleicht kann es auch helfen, die eigene Geschichte zu teilen. Solange dies nicht aus Ego sondern in Liebe geschieht, kann sie auf sehende Herzen treffen. Und dann kann uns auch die Begegnung mit unserem eigenen Schatten der Vergangenheit nicht mehr umwerfen. Wir sind dann schon ein anderer und haben ein Recht darauf — wie Sölle in all ihrer befreiten Frömmigkeit plädiert.
Reflexionsfragen
1) Was bedeutet für Dich der Begriff „Leistungsgesellschaft“?
2) Stimmst Du zu, dass Liebe die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens ist? Fall ja, welche Rolle spielt jeder Einzelne dabei? Wenn nein, was ist die Botschaft nach Deiner Auffassung?
3) Glaubst Du daran, dass sich Menschen ändern können? Welche Rolle spielt Glaube dabei?