# 448: BOOK OF THE WEEK — “Demokratie braucht Religion”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Man sollte für solch ein Büchlein nicht 12 Euro bezahlen. Das ist überzogen, gemessen daran, dass es nicht mehr als ein publizierter Vortrag vor dem Würzburger Diözesanempfang war. Trotzdem habe ich mich nach langem Drumrumschleichen zum Kauf entschieden. Eine Pfarrerin hatte mir das Buch empfohlen und natürlich reizte mich der reißerische Titel. Wenn einen gerade etwas voll und ganz in seinen Bann zieht — das ist bei mir die Theologie — und dann noch das Wort Demokratie in dieser Verbindung auftaucht, muss ein politischer Mensch wie ich einfach schwach werden.
Ich habe es nicht bereut.
Habe diese Seiten in einem Rutsch am Flughafen San Francisco gelesen.
In „God’s Chosen Country“.
Gosh, how much I miss that country.
As much as I also hate it at times.
- Aggressionsstatus
Rosa kommt erst gen Ende auf das Thema Kirche. Es ist die Antwort auf die Frage, die er eingangs stellt: „Braucht ein Land wie unseres, eine Kultur wie unsere, die Kirche?“ Die Antwort ist natürlich ein „ja“, sonst würde er so ein Buch nicht schreiben. Wichtig ist aber, wie er zu der Antwort gelangt. Das tut er, indem er den Status Quo beschreibt. Und da ist viel Wahres dran. Und am Wichtigsten ist die Tatsache, dass der Aggressionszustand des Landes es verhindert, dass die Losung des letzten Jahres 2022 ihre Wirkung entfalten konnte: Unsere Herzen hören nämlich nicht — zumindest nicht, was sie hören sollten. Sie sehen auch nicht. Sie hören und sehen nur sich selbst und die Tatsache, dass höher, schneller, weiter und permanentes Wachstum die Devise ist — immer und überall.
Dass dies irrational ist, ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass es uns als Menschen kaputt macht. Und am Ende machen wir uns gegenseitig kaputt; nämlich dadurch, dass wir im Anderen keinen Resonanzraum mehr finden. Das ist die zentrale These des Buches. Wir Menschen sind auf Resonanz angelegt. Wir brauchen ein Gegenüber. Wir wollen Reaktionen in Menschen sehen. Und sei es ganz banal die Reaktion auf ein Lächeln oder ein Weinen. Aber auch das ist uns abhanden gekommen — die Empathie. All das zusammen bewirkt, dass Menschen im „gegen“ statt im „hin zu“ Modus des Sozialen aktiv sind. Und genau in einer solchen Gesellschaft geht die Demokratie den Bach runter, denn „eine Stimme zu haben“, wie man zuweilen hört, reicht eben nicht, wie auch Rosa feststellt.
Es sollte auch Nicht-Christen und Nicht-Gläubige (wie Gregor Gysi, der das Vorwort schrieb) aufhorchen lassen, dass solch kluge und einfach verständliche Mahnworte in der Bibel durch König Salomon gesprochen werden.
2. Auf-hören
Über dieses kleine Wörtchen machen wir uns vielleicht zu wenig Gedanken. Ich zumindest habe das, bei allem Gedankenmachen, nie getan. Und doch hat Rosa recht damit. Die zweifache Bedeutung von aufhören im Sinne von „beenden“ und andererseits „auf etwas hören“ ist ganz und gar aufrüttelnd. Das ist genau das, was entsteht, wenn man ganz neu hören lernt. Nur dann kann wirkliche Transformation entstehen, durch das Erreichtwerden und Berührtwerden. Das geht nur, wenn man offene Ohren hat und auch willig ist, sie auf Empfang zu stellen. Dann passieren Dinge, die man nicht vorwegsehen kann. Das ist wahr. Nur wenige von uns erleben das noch. Wir sind schon in der Schule darauf trainiert, immer an irgendein Ziel zu kommen mit unseren Sätzen und Argumenten. Meistens wollen wir nur eins: überzeugen.
Dabei wissen wir ganz genau, dass das sinnlos ist.
Am Ende auf dem Sterbebett werden wir nicht dafür gepriesen, wie oft wir „recht hatten.“
Wohl werden wir sehr genau wissen, ob wir geliebt haben.
3. Natalität
Das Auf-hören ist auch schon die Antwort auf die Frage, ob und warum es Kirche braucht. Für Rosa stellt genau sie die Ressourcen zur Verfügung, um Menschen das Aufhören und den Resonanzraum nicht nur zu lehren sondern bereit zu stellen. Und vor allem bietet sie eine Kontinuität und Stabilität, die andere als stehengeblieben bezeichnen. Aber genau das ist es, was ich auch erst anfange, zu verstehen. Wir alle sehnen uns irgendwo in uns drin nach Ruhe. Die vermeintliche Innovationsträgheit des Christentums und der Kirche mag für das Gegenteil von Fortschritt stehen. Doch das genau ist falsch und ich stimme Rosa zu, dass die Kirche und der Glaube darin das ermöglicht, was wir sonst nirgendwo mehr finden.
Was ich, ohne Arendt dazu gelesen zu haben, aus dem Begriff der Natalität, so wie ihn Rosa hier verwendet, lese, ist das, was einem im Gottesdienst jede Woche begegnet. Man geht hin, man hört Verse aus der Bibel, die man vielleicht schon x mal gehört und gelesen hat, und doch passiert jedes Mal — zumindest kann es das — etwas Unvorhersehbares, Unverfügbares, mit den Worten. Wir hören sie immer anders und in manchen sehr seltenen Momenten packen sie uns in einer Weise, dass sie uns umwerfen, dass sie wirklich unsere Welt auf den Kopf stellen. Das genau macht Kirche. Darin ist so viel außergewöhnlich Innovatives in genau diesem Raum, der nicht dem Leistungsprinzip unterworfen ist, in dem Menschen sich finden und für andere da sind, die wissen, dass Leistung rein gar nichts zählt, wenn es um Gottes Liebe geht.
Mein Gott, dass ich so was hier schreibe.
Mein Gott, wie schön das ist.
Und wie gut, dass Rosa diesen Vortrag publiziert hat.
Wie schön wäre es,
wenn wieder mehr Menschen den Zusammenhang zwischen Politik und Glaube verstehen würden.
Wir alle, die wir was mit Bibel „am Hut haben“,
können dazu beitragen.
Dazu müssen auch wir immer wieder neu hören.
Und vor allen Dingen auch immer wieder neue Worte finden,
um die Menschen zu erreichen.
Ob mir das gelingt?
Das ist die falsche Frage.
Entweder man tut es,
man gibt sich ganz.
Oder eben nicht.
Es gibt kein Ziel.
Keine Überzeugung.
Nur den Glauben.
Wofür lohnt es sich noch,
in dieser Welt zu „arbeiten“?
Die Antwort liegt auf der Hand
Und in diesem Buch,
das seit Jahrtausenden die Menschheit bewegt.
Genau deshalb braucht es Kirche.
Reflexionsfragen
1) Hast Du ein „hörendes Herz“? Wann nicht?
2) Wann hast Du zum letzten Mal in einem Austausch wirklich „aufgehört“ — also einen alten Gedanken verworfen und völlig neu gesehen?
3) Stimmst Du mit Rosa überein, dass es Kirche braucht, um den Menschen Resonanz zu ermöglichen? Wenn nicht, welche anderen Gründe könnten für die Kirche sprechen?