# 439: BOOK OF THE WEEK — “Eine Frau”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Vor nicht langer Zeit habe ich schon einmal über Ernaux geschrieben. Ich wusste nicht viel mit ihr anzufangen. Jetzt kann ich das etwas besser. Ich denke, Schriftsteller werden ist schwieriger als Schriftsteller sein. Vielleicht nimmt es sich auch nicht viel. Es gibt diesen Moment, da weiß man, dass man sterben wird, wenn man nicht schreibt. Den hatte ich schon öfter. Aber verstanden habe ich ihn erst heute. Eigentlich in den letzten Tagen. Eigentlich in den letzten Wochen und Monaten, in denen ich wieder nicht „richtig“ geschrieben habe. Wenn ich das schreibe, meine ich, dass ich das Schreiben nicht ernst genommen habe. Wenn ich das tue, dann nehme ich mich nicht ernst. Und das ist gefährlich.
Ernauxs Buch über den Tod der Mutter ist ein Buch über das Schreiben. Das ist wahrscheinlich jedes Buch von ihr. Ich nehme an, deshalb haben mich Vertraute mit ihr verglichen. Deshalb haben sie mir ihre Bücher empfohlen. Ich hatte Angst vor dem Lesen dieses Buches. Aber man kann es in wenigen Stunden lesen. Das musste ich heute. Mir war nach nichts anderem. Genau das sagt schon viel. Wenn mir nach nichts im Leben ist, dann ist mir nur nach Schreiben. Das ist das Letzte, das bleibt. Vielleicht war es auch das Erste, das in mir war. Man kann das nicht genau wissen, genauso wenig wie Ernaux wissen kann, wie ihre Mutter war, als sie das noch gar nicht wissen wollte.
- Wahrheit
Ernaux erklärt immer wieder zwischendurch, warum sie schreibt und wie sie schreibt und warum sie schreiben muss, was sie gerade schreibt. Diese Zeilen über die Wahrheit sind wesentlich. Ich habe mich ertappt gefühlt. Ich glaube, diese Zeilen sind der Grund, warum ich letztlich nie so richtig „glauben“ werden kann. Für mich steckt die Wahrheit in der Literatur — in jeder Literatur. Die Bibel ist auch Literatur. Vielleicht kann ich mich ihr so annähern, weiter annähern. Vielleicht auch nicht. In jedem Fall weiß ich, dass ich in der Literatur die Wahrheit des Lebens erkenne, die unaussprechlich ist. Und ich drücke die Wahrheit in Literatur aus, die ich selbst nicht erkenne.
2. Verzweiflung
Schriftsteller sind verzweifelter als andere Menschen. Vielleicht ist das so, weil sie die Wahrheit noch klarer vor sich sehen als andere. Vielleicht lassen sie die Wahrheit auch nur mehr zu, die alle anderen auch sehen. Oder Schriftsteller sind einfach zu überfordert mit dieser Welt. In jedem Fall haben Schriftsteller, egal, ob sie vom Schreiben leben können oder nicht, zu viel Zeit, um über die Welt und das Unglück nachzudenken. Deshalb ist die Verzweiflung ein Luxus. Deshalb ist das ein Luxus, was ich hier gerade mache. Keiner, der keine Zeit hat, würde endlos und fortwährend schreiben, wenn er dafür nicht bezahlt wird; wenn ihn gar keiner liest. Ich muss das tun. Somit sind auch meine Zeilen immer Zeilen über das Schreiben und über die Verzweiflung, die damit einher geht.
3. Mutter
Solch einen Moment hatte ich auch schon. Er ist schrecklich. Ich hatte ihn auch mit meinem Vater, das war auch schrecklich. Es wird aber nicht weniger schrecklich mit jedem neuen Mal. Zum Glück haben wir „nur“ zwei Elternteile, zumindest biologisch. Wahrscheinlich hat Gott das so eingerichtet, dass zwei genug Leid für ein Leben sind. Es verändert einen, wenn man sieht, was Ernaux oben in ihrem Text sieht. Das Kind in der Mutter. Es ist abstoßend und tieftraurig zugleich. Man kann nicht zurück. Man weiß, sie wird sterben, irgendwann. Vielleicht weiß man auch, dass man selbst irgendwann sterben wird. Man sieht Dinge, die man nicht sehen will. Sie sind menschlich. Das sagt sich so leicht. Wir tun unser ganzes Leben so viel, damit wir das Menschliche nicht preis geben. Und dann schlägt es uns mitten ins Herz. Dann sind wir ganz erwachsen und gelöst — gelöst von der Nabelschnur, die uns krank machen kann.
Ernauxs Buch ist eine Zumutung. Aber nur für mich an diesem Tag. Ich bin dankbar, dass es dieses Buch gibt und Ernaux. Ich bin dankbar für die Menschen, die mich auf Ernaux aufmerksam gemacht haben. Sie haben mir geholfen, zurück zur Literatur zu finden. Sie haben mir damit zu mir selbst zurück geholfen. Ich bin auch meiner Mutter dankbar, dass sie, wenn sie mich auch nicht zu einem glücklichen Menschen gemacht hat (cf. Ernaux 83), immer eines getan hat: mein Schreiben unterstützt. Ersteres kann man nur selbst. Letzteres ist mehr, als man sich je wünschen könnte. Vielleicht ist nicht jeder Schriftsteller voller Widersprüche. Ernaux ist es aufs Extrem. Ich bin es auch. Schreiben ist eine Form des „Gebens“ schreibt Ernaux am Ende mit Erwähnung von de Beavoir, die acht Tage nach ihrer Mutter starb. Das stimmt. Ich sehe es so oft nicht. Vielleicht kann ich nur das geben — Buchstaben. Vielleicht sollte ich aufhören, andere Dinge geben zu wollen, die mich und andere doch nicht trösten.
„Wenn man sagt, dass der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz.“ — Hegel
Reflexionsfragen
1) Worin findest Du „Wahrheit“?
2) Wie stehst Du zu der Aussage, dass Verzweiflung „Luxus“ ist?
3) Was wolltest Du an Deinen Eltern nie sehen?