# 437: BOOK OF THE WEEK — “Jetzt, wo ich schon mal nicht tot bin”
Geschichte hinter der Buchauswahl
„Jeder Promi, der eine Krise überwunden hat, schreibt ein Buch.“ Das ist die gängige Meinung von Menschen, die das Getöse und die Self-PR nicht mehr hören und sehen wollen. Und natürlich haben Kritiker damit auch recht. Aber macht das die Lektionen, die man aus diesen Geschichten lernen kann, in irgendeiner Weise unbedeutender? Wer sich jemals mit dem Verlagswesen und dem Publikationsgeschäft herumgeschlagen hat, weiß, dass nicht jeder mal so eben ein Buch veröffentlichen kann. Nein, es braucht die „big names“, die durch ihre öffentliche Persönlichkeit so viel „Reichweite“ generieren, dass sich das Buchpublizieren lohnt.
Silvana Koch-Mehrin ist eine solche öffentliche Person bzw. „war“ sie es noch zu Zeiten ihrer politischen Bilderbuchkarriere. Und natürlich weiß sie auch um die Kritiker, die sie heute noch immer hat und durch ihre Publikation einlädt, ihr erneut an den Karren zu fahren. Sie erwähnt dies ganz offen und ehrlich, dass der Verwurf „sie habe es nötig“ nahe liegt. Aber nach all dem, was sie überwunden hat, kann ihr das mal sonst wo vorbeigehen. Und genau das ist es, was man aus diesen Geschichten lernen kann: Gelassenheit und der Mut, man selbst zu sein. War man mal „fast“ tot, ist jeder Tag ein Geschenk. Und wenn man sich das auch jeden Tag klarmacht und nicht in das alte Hamsterrad von Ego-Kampf und Karrieredenken zurückfällt, dann gibt es nichts und niemanden, der einen daran hindern kann, sich zu äußern und ein Stück weit auch angreifbar zu machen.
Man ist frei, einfach zu sein.
Noch da zu sein.
Und sich zu freuen auf das Morgen,
das man noch erleben darf.
Mit all der Demut vor dem Leben.
Das Buch war ein Spontankauf am Bahnhof und ich habe sofort angefangen, es zu lesen. Am meisten sprach mich wohl der Untertitel zum “Umgang mit der Angst” an. Aber vielleicht war es auch einfach die Tatsache, dass ich von dieser Frau so lange nichts mehr gehört hatte. Wohl hatte ich von ihrem Absturz gewusst und von ihrer Krankheit. Aber „dran“ geblieben, war ich nicht. Ist das nicht an sich erschreckend, wie viel schreckliche Nachrichten zu Menschen uns täglich erreichen und wir denken schon kurz darauf nicht mehr daran? Ich nahm das Buch, las die ersten paar Seiten noch im Buchladen und ging zur Kasse. Es war ein guter Kauf. Kaum ein Buch ist kein guter Kauf. Man lernt hier sehr viel über eine Frau, die vieles von dem Preis gibt, das mich auch mal ausgemacht hat. Gott sei Dank sind wir Menschen täglich eingeladen, aus unseren Fehlern zu lernen bzw. den Glauben daran nicht aufzugeben, dass wir uns zum Besseren und damit Glücklicheren verändern können.
- Liebe
In diesem Buch habe ich mal wieder unzählige Stellen markiert. Die Sprache ist pfiffig, pointiert, kurzweilig. Die Zusammenarbeit der beiden Autoren hat sich definitiv gelohnt. Ich weiß nicht, wieviel der Schreibe originär von Koch-Mehrin ist. Ich höre aber ihre Stimme, wenn ich die Seiten lese. Das ist ein gutes Zeichen, dass da viel von ihr in den Zeilen steckt. Noch mehr steckt in Erkenntnissen wie den hier beschriebenen zur Liebe. Koch-Mehrin schreibt hier über eine Freundin, der sie als eine der ersten von ihrer Krebserkrankung erzählte. Ja, auch und gerade Freundschaft ist Liebe. Aber wichtiger ist wohl, das beschreibt sie hier, dass wir die Liebe täglich leben und erfahren. Das klingt so kitschig, aber mittlerweile habe ich — sehr christlich vielleicht — das Gefühl, nein, die Erkenntnis erlangt, dass die Liebe der Schlüssel zu allem ist.
Wer mal darniedergelegen hat und „am Arsch“ war, der weiß, was Einsamkeit ist. Einsamkeit kann man auch spüren, wenn Menschen um einen herum sind. Oft baut man sich seine eigene Einsamkeit, weil man niemanden an sich heran lässt, niemandem vertraut. Gerade als starke und erfolgreiche Frau genießt man das, die eigene Unangreifbarkeit auszuleben. Man muss nicht immer hart nach außen erscheinen. Aber innerlich ist man es. Man redet sich selbst ein, dass einem nichts passieren kann, dass man alles “im Griff” hat. Diese Formulierungen sind ja sehr bildlich. Man lässt nicht los, schon gar nicht die eigenen Emotionen. Und wenn man dann mal abstürzt, dann merkt man erst, wieviel Kraft das ganze Festhalten gekostet hat. Und man muss sich eingestehen, dass man sich damit selbst ganz schön viel Leid eingebrockt hat.
Und leiden heißt eben nicht, sich selbst zu lieben.
Oft wünsche ich, ich hätte diese Lektionen schon sehr viel früher gelernt. Und dann denke ich wieder, dass ich sie doch schon verhältnismäßig früh lernen durfte. In mir ist eben immer die Ungeduld, die alles schneller lernen will, um damit dann etwas zu machen. Und dieses „machen“ hat heute viel mit Liebe zu tun, so banal das klingen mag. Mir ist nicht mehr so wichtig, ob mich andere für schlau oder erfolgreich halten. Mir ist aber wichtig, dass die Menschen, mit denen ich arbeite, das Gefühl haben, dass ich sie „liebe“ — eben in ihrer Ganzheit annehme und daraus keinen großen Res mache. Sie sollen einfach nur spüren, dass sie so richtig sind, wie sie sind, und dass ich an sie glaube (wenn dem eben ehrlich so ist im individuellen Fall). Damit ist schon viel gewonnen, finde ich. Und natürlich wäre das alles nicht möglich gewesen ohne annähernd solche Abstürze, wie sie Koch-Mehrin mit ihrer Erkrankung und dem Verlust ihres Doktortitels und natürlich der ganzen Häme erlebt hat, die damit zusammen hing.
“Du definierst Dich zu sehr über Deine Arbeit”, hat mir gestern eine liebe Vertraute und sehr kluge Frau gesagt.
“Stimmt”, sagte ich.
Und trotzdem ist die Arbeit Teil von mir und meinem Anspruch, den Menschen Wärme statt Kälte zu geben, und wenn ich noch so für meinen “Kopf” bekannt bin…
2. Gefühle
Koch-Mehrin appelliert in dem Buch für einen offenen Umgang mit der Angst. Die Angst ist eine wichtigsten, wenn nicht die wichtigste, Basisemotion in unserem Leben. In diesen Passagen hier geht sie explizit darauf ein. Und natürlich sind Emotionen genau das, wovon einem jeder abrät im „Business“ und auch in der Politik. „Fahr mal die Emotionen runter“, wie oft habe ich das gehört als Rat? Und wenn ich das dann erfolgreich eine ganze Weile gemacht habe, dann war ich wieder kaputt. Denn ich hatte mir die Emotionen in einer Weise abtrainiert, dass ich sie gar nicht mehr spürte. Emotionslosigkeit ist ein Symptom für Depression. Der Übergang von „gesund und professionell“ zu „kaputt und depressiv“ ist leider fließend. Und man selbst will ihn am wenigsten wahrhaben.
Ich denke, es braucht lange, bis man den Mittelweg wieder findet. Vielleicht finden ihn einige nie. Vielleicht gehöre ich auch dazu. Der berühmte Ruf nach der „goldenen Mitte“ ist einer, den ich auch ab und an äußere. Trotzdem frage ich mich, ob wir ihn wirklich brauchen. Vielleicht gibt es einfach Menschen wie mich und vielleicht auch Koch-Mehrin, die mit starker Emotionalität gesegnet sind und das auch ausleben sollen und müssen, um gesund und liebend durch die Welt zu marschieren. Ich glaube nicht, dass man sich das als Programm vornehmen kann. Dann ist es gekünstelt. Man kann sich aber vornehmen, sich selbst nie zu verlieren. Dann spürt man auch immer die eigenen Emotionen und kann sie ganz natürlich ausleben.
3. Joy
Koch-Mehrin schreibt viel über ihren Mann James. Er ist ein Ire und spricht nicht viel. Er ist verwurzelt in seiner irischen Herkunft und der groundedness, die damit einhergeht. Es sind sehr viele sehr witzige Stellen zu James in dem Buch, die anrühren, da sie so liebevoll und voller Respekt sind. James redet nicht viel und wenn doch, dann sagt er in wenigen Sätzen eine Menge. Er ist ein bisschen das Gegenteil von Koch-Mehrin, so wie sie sich selbst schildert. Und wenn es ein Rezept für gute Partnerschaft abzuleiten gäbe, dann wäre es wahrscheinlich das berühmte „Gegensätze ziehen sich an“. Mittlerweile glaube ich immer mehr daran. Ich denke, es ist gut, ein Pendant zu haben, das so ganz anders ist als man selbst. Damit gerät man nicht in die Gefahr, sich in das eigene Spiegelbild im Anderen zu verlieben.
Die Formulierung „aus Versehen Karriere gemacht“ klingt gut. Ich mag sie. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Denn zu Karriere machen gehört immer eine Menge Arbeit und Durchhaltewillen. Man rutscht nicht einfach irgendwie so in den Erfolg, auch wenn einen das viele Leute glauben machen wollen. Letztlich verhindert der Erfolg aber nicht, dass man sich irgendwann leer fühlt. Im Gegenteil, der Erfolg trägt dazu bei, dass man die Leere lange nicht spüren will. Und dann spürt man nicht mehr, was einem wirklich Spaß macht. Dann beneidet man Kinder, die man fragt, “macht Dir das Spaß”? Und sie zögern keine Sekunde, einem eine klare und einfache Antwort zu geben. Das verlieren wir oft als Erwachsene, weil wir uns so gut selbst täuschen können. Dann können wir glücklich sein, solche Menschen wie Koch-Mehrin an der Seite zu haben. Fast wie ein „Coach“ geht sie hier auf ihren Mann zu, um ihn wieder zurück zu führen zu sich selbst — und zu einem neuen beruflichen Ort.
Dieses Empowerment ist auch eine Form der Liebe.
Vielleicht sogar eine sehr wichtige.
Und lange habe ich nicht begriffen, was man damit bewirken kann.
Als Coach Menschen zu begleiten
Ist ein Privileg
Und eine Freude.
Und wer das Wort Coaching nicht mag
Der mag es eben nicht.
Ich finde kein besseres
Und lasse mich nicht mehr halten von den Stimmen
Die mir mit ihrem eigenen Ego die Freiheit nehmen.
Reflexionsfragen
1) Hattest Du schon mal einen Moment im Leben, wo Du gar nichts mehr hattest, was Dir sonst immer selbstverständlich vorkam (z.B. Gesundheit, Geld, Beziehung, zu Hause…)? Was hat Dir geholfen, dies zu überstehen?
2) Stimmst Du mit Koch-Mehrin überein, dass „Gefühle zeigen“ mehr Raum bekommen sollte, gerade unter Führungskräften/öffentlichen Personen? Warum/nicht?
3) Wie stehst Du zu der Aussage, dass man „aus Versehen“ Karriere machen kann?