# 430: BOOK OF THE WEEK — “Die Scham”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Annie Ernaux wurde mir binnen der letzten Monate von vielen unterschiedlichen Menschen “empfohlen”. Ich schreibe das in Gänsefüßchen, weil man Bücher nicht wirklich empfehlen kann. Man kann sie jemandem ans Herz legen, weil man etwas in ihnen erkennt, das sie mit dem Herzen des möglichen Lesers verbindet. Gleichwohl ist es eine Frage der Situation und des inneren Angesprochenseins, ob der Angesprochene dem Hinweis nachkommt. In den letzten Wochen habe ich ebenfalls oft den Satz gehört „Du musst auf die Zeichen achten“. Dieser Satz ist nicht in Verbindung mit Büchern gefallen. Trotzdem ist es eine ähnliche Suche, die einen treibt. Als Leser ist man unbewusst immer nach der Suche nach dem „richtigen“ Buch für den aktuellen Moment. Gleichwohl gehen viele an einem vorbei. Und so manchem Hinweis — so manchem „Zeichen“ — kommt man eben nicht nach.
Und das aus einer bewussten Entscheidung heraus.
Man muss nicht jedes Buch lesen, was einem empfohlen wird. Es muss meist noch irgendein Auslöser hinzukommen, der einen dann quasi kaum um das Buch drumherum kommen lässt. Bei mir war es eine ausgefallene Bahn vor einigen Wochen, die dafür sorgte, dass ich mich in dem kleinen Buchladen wärmte. Und da standen plötzlich viele Bücher von Ernaux auf einem kleinen Tisch vor mir. Da musste ich einfach zugreifen. Ich nahm „Die Scham“. Irgendwie war der Titel mir am nächsten und das kleine Büchlein machte den Eindruck, als sei das ein guter Einstieg in Ernauxs Werk. Das stellte sich durchaus auch als „richtig“ heraus, wenn ich nun auf die Lektüre blicke. Gleichwohl ist es mir bei noch keiner Autorin so schwer gefallen, mir ein Bild zu machen.
Ich habe noch kein rechtes Gefühl, was mir ihr Werk bedeutet.
Ich spüre keine wirkliche Meinung.
Ich weiß nicht, ob ich Ernauxs Bücher „mag“.
Diese Unentschiedenheit ist neu für mich. Vielleicht liegt bereits darin der Wert dieses Buches. Vor einer Woche sagte jemand Vertrautes zu mir, dass ich bereits in der Jugend „klare Ansagen“ gemacht habe, immer einen klaren Standpunkt hatte. In der Rückschau kann ich sagen, dass vieles davon dumm und naiv und arrogant dazu war. Aber trotzdem gehört wohl diese Entschlossenheit und meine klare Positionierung irgendwie zu meinen Stärken. Sie gibt anderen Menschen Sicherheit, wenn sie Entscheidungen zu treffen haben oder sich mir anvertrauen. Dieses Gefühl ist sehr schön. Dafür kann man nicht aktiv sehr viel tun. Man ist so oder eben nicht. Und Menschen nehmen einen so wahr oder eben nicht.
Überhaupt strengen wir uns im Leben so sehr an, so oder so zu sein.
Dabei sind wir es schon längst.
Und die anderen sehen uns genauso.
Das ist eigentlich ganz schön.
Finde ich.
Mit Ernaux jedenfalls werde ich wahrscheinlich noch ein bisschen „kämpfen“. Sie wird mir sicher noch viel zu sagen haben. Denn genau das Geheimnis, warum sie mir von unterschiedlichen Menschen empfohlen wurde, will ja gelüftet oder zumindest langsam entblättert werden. Die offensichtliche Parallele ist das Autobiographische. Alles, was Ernaux schreibt, ist wohl irgendwie autobiographisch. Das ist bei mir ähnlich. Dieser ganze Blog hier ist eine autobiographische Zumutung — den Lesern und mir selbst gegenüber. Und doch gehört es eben zu Ernaux, genauso wie ihr „Arbeiterkind-Hintergrund“. Das ist der zweite Aspekt, warum Menschen wohl eine Parallele sehen. Nur sehe ich nicht, was ich mit einer Literaturnobelpreisträgerin gemeinsam haben soll.
Mich liest ja keiner.
Ich schreibe trotzdem.
Wahrscheinlich ging das Ernaux auch lange so.
1. Anderen gehören
Ernaux eröffnet das Buch mit einer Szene, in der ihr Vater ihre Mutter in der Küche der Familie fast umbringt. Danach ging das Leben weiter. Aber es ist diese Szene, die Ernauxs Kindheit für immer verändert hat, ihre Art, ihr Leben zu betrachten, vielleicht sogar ihre Sprache. Wie sie erklärt, ist es für sie sehr wichtig, die Sprache ihrer Vergangenheit zu finden und ihre eigene Geschichte durch die Linse dieser Sprache zu sehen. Ich weiß nicht, ob das jemals möglich oder wünschenswert ist, aber allein der Gedanke ist interessant. Auf jeden Fall ist ihre obige Feststellung, dass eine Szene, sobald man sie in Worte fasst und für andere zum Lesen aufschreibt, einem verloren geht, bemerkenswert. Wiederum ist sie auf eine Weise bemerkenswert, die ich nicht wirklich erklären kann.
Ich habe keinen eindeutigen Impuls, um “ja” dazu zu sagen. Sicherlich, wenn man Szenen aus der eigenen Vergangenheit, aus dem eigenen Kopf, schreibt und veröffentlicht, gibt man sie preis. Dennoch glaube ich nicht, dass sie jemals vollständig jemand anderem gehören können. Und selbst wenn es so wäre, könnte das ein Wert an sich sein. Was auch immer sich der Leser in seinem Kopf vorstellt und in etwas anderes verwandelt, könnte als “Eigentum” angesehen werden, als eine Form der Zugehörigkeit zu jemand anderem, die kreative Kraft entfaltet.
2. Lieben und Reisen
Natürlich musste ich diese Passage wählen. Wie könnte es anders sein? Wenn man mein Leben zusammenfassen würde, es gäbe nur diese beiden Worte: Reisen und Liebe. Ich stelle sie aber hier in umgekehrter Reihenfolge in meiner Stimme, da beide so miteinander verbunden sind, dass das eine aus dem anderen folgt, gewissermaßen jedenfalls. Ich denke, wir alle haben die Sehnsucht nach Liebe in uns. Darüber muss ich hier wohl keine Worte machen. Die Herausforderung ist nur, die Liebe auch zu leben. Für mich hat das Reisen dazu geführt, dass ich überhaupt liebesfähig wurde. Vielleicht stimmt das aber auch gar nicht. An vielen Tagen zweifle ich daran.
Wenn man davon ausgeht, dass nur der Mensch von anderen Menschen — vielleicht sogar von einem Menschen — geliebt werden kann, der selbst liebesfähig ist, so frage ich mich schon, warum ich an manchen Tagen so wenig Liebe um mich und für mich spüre. Aber auch das hängt vom Blick ab. Und vor allen Dingen hängt es vom Glauben ab. Überhaupt ist der Glaube das Einzige, was mir in diesen Tagen manchmal Halt gibt. Für Ernaux war das nicht so, glaube ich. Ihre Mutter lebte ihr den katholischen Glauben vor und daran war viel Rigoroses und wenig Liebevolles. Aber wer weiß das schon?
Wer weiß, was unsere Mütter wirklich gefühlt haben?
Wer weiß, was sie uns vielleicht gesagt haben?
Wer weiß, was wir sie längst hätten fragen können?
3. Scham
Ernaux tastet sich langsam an den eigenen Titel heran. Erst im letzten Teil des Buches wird er explizit aufgegriffen. Die Scham, wie sie sie beschreibt, begründet sich wesentlich aus ihrem Leben in einer Familie, die nicht zur gesellschaftlichen Mittel- oder Oberschicht gehörte. Das ist der Aspekt, den viele wohl sahen, als sie mir das Buch empfohlen haben. Ich selbst sehe diesen Aspekt gar nicht so stark im Buch. Überhaupt habe ich Schwierigkeiten, mich mit Ernaux zu identifizieren. Über viele Strecken des Buches weiß ich einfach nicht, was ich mit der Schilderung des Dorf- und Schullebens anfangen soll. Ja, es sind einige kluge Sätze dabei, über die man noch viel nachdenken kann. Und es sind viele Schilderungen der Gesellschaft der 1950er Jahre dabei, die sicher auch auf heute zuträfen. Doch sie berühren mich einfach nicht. Das hat nichts mit der Zeit zu tun. Vielleicht hat es etwas mit dem Französischen zu tun. Vielleicht mit der Übersetzung. Ich weiß es nicht.
Ebenso wenig weiß ich, ob die Scham so schlimm ist, weil man glaubt, sie als Einziger zu empfinden. Ich kenne viele schamvolle Momente, von denen ich weiß, dass sie auf Situationen zurückgegangen sind, die andere auch erfahren haben. Genau die Erinnerung an diese anderen war es oft, die mich hat noch schamvoller fühlen lassen, da ich mich eben nicht mit jenen anderen identifizieren wollte. Natürlich ist das Gefühl, mit etwas allein dazustehen, ein Grund, sich nicht gut zu fühlen. Ob dabei Scham eine Rolle spielen muss, kann ich nicht sagen. Ich denke, die größte Scham ist jene, die wir uns selbst gegenüber in uns tragen. Sobald wir uns bewusst werden, wie sehr wir uns schämen vor anderen, weil wir so sind, wie wir sind, schämen wir uns vor uns selbst. Denn wir wissen, dass es nichts bringt, uns selbst nicht zu lieben. Wir wissen, dass wir die Wahl haben, das Leben anzunehmen oder uns selbst zu verachten. Wenn ich Letzteres tue, schäme ich mich vor mir selbst. Und dann kann ich mir viel besser vorstellen, wie es ist, wenn ich die Scham anderen gegenüber aufgebe.
Im Grunde sind wir alle nackt.
Wir entblößen uns oft vor anderen.
Sie sehen uns, wie wir wirklich sind.
Wer uns dann genauso liebt.
Vor dem braucht es keine Scham.
Reflexionsfragen
1) Hast Du schon mal einen Moment oder eine Szene aus Deiner Vergangenheit „weggegeben“, in dem Du ihn öffentlich geteilt hast? Was waren die Folgen?
2) Sind Reisen und Liebe auch Deine Sehnsüchte? Warum/nicht?
3) Was war der Moment größter Scham in Deinem Leben?