# 424: BOOK OF THE WEEK — “Höhenflüge und Bruchlandungen”

Silke Schmidt
6 min readOct 16, 2022

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Maader, Walter (2021). Höhenflüge und Bruchlandungen: Der dienstälteste Flughafsenseelsorger Deutschlands erzählt.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Als meine Wahl auf dieses Buch für diese Woche fiel, ahnte ich noch nicht, wie treffend der Titel sein würde. Ursprünglich war der Anlass das 50-jährige Jubiläum der Flughafenseelsorge in Frankfurt, welches nächste Woche gefeiert wird. Nun ist der zusätzliche Anlass meine Bruchlandung von gestern. Ich hatte einen Autounfall. Es waren mind. 100 Engel um mich herum, die Schlimmes verhindert haben. Mehr will ich dazu gar nicht sagen. Nur, dass ich dankbar bin. Solche Tage zeigen einem, worauf es ankommt. Sie erinnern einen an die Endlichkeit des Lebens. An diese Endlichkeit erinnere ich mich schon seit vielen Jahren fast täglich und lebe danach. Aber solche besonderen Ereignisse verstärken die Bewusstheit und den Glauben.

Walter Maaders Glaube wurde maßgeblich durch seine Kriegserfahrung geprägt. Diese ist ein roter Faden durch das Buch. Man bedenke, dass Maader Jahrgang 1928 ist und das Buch 2021 erschien. Das allein sagt viel. Kommende Woche werde ich vlt. Gelegenheit haben, ihn kennen zu lernen. Ich bin gespannt darauf. Jeder Flughafenseelsorger könnte schon nach wenigen Jahren im Amt ein Buch füllen, denn täglich passiert so viel. Doch Maader war Pionier der Flughafenseelsorge und hat somit in Deutschland den Grundstein für das geschaffen, was seine Nachfolger/innen — unterschiedlicher Konfessionen — heute erleben und leisten. Auch eine “Kleine Geschichte” der Flughafenseelsorge hat am Ende des Buches Platz und ist ganz und gar nicht fehl am Platze für dieses historische Faktenwissen, das außerhalb der subjektiven Schilderung Maaders folgt.

Doch natürlich ist es die Stimme des Autors, welche die Geschichte bzw. die vielen Flughafengeschichten, zum Leben erweckt. Maader schreibt in einer klaren und flüssigen Sprache — ganz so, wie die Seelsorge an sich ist, zumal am Flughafen. Sämtliche Schnörkel und alles Überflüssige stören hier. Seelsorge muss anpacken, im Moment, ohne viel Aufhebens. Der katholische Pater steht hierfür, beschreibt dies, und praktiziert es auch im Schreiben. Das ist nicht nur erfrischend, das ist auch erhellend für jeden, der die Flughafenseelsorge noch nicht so gut kennt. Und vor allem ist es bewegend. Denn auch wenn Seelsorge nicht dauernd selbst mit dem Taschentuch in der Hand agieren kann, ist das Ein- und Mitfühlen Grundvoraussetzung. Wahrlich, ein halbes Leben am Flughafen ist reich an großen Gefühlen, die auch geäußert werden dürfen.

Das trifft auch auf die kritische Stimme gegenüber der „Kirche“ zu, die Maader durchaus im Blick hat. Dies ist kein Schmusekurs und keine Selbstbeweihräucherung. Es ist auch kein Abfeiern der Tatsache, dass die Katholiken in den USA die ersten waren, die eine Flughafenseelsorge in Boston ins Leben gerufen haben. Natürlich liegt der Fokus auf der katholischen Seelsorgearbeit. Aber es wird auch stets berücksichtigt, dass Flughafenseelsorge Teamwork ist — über alle Konfessionen und Arbeitsbereiche hinweg, Hand in Hand. Man mag das Understatement des Autors an manchen Stellen hinterfragen, wenn er schreibt, dass die eigene Person nichts im Vordergrund zu suchen hat. Man mag fragen, warum man dann so ein Buch schreibt. Möchten Autoren nicht immer im „Rampenlicht“ stehen?

Ich glaube Maader.

Das Buch macht Freude.

Und es klärt auf über einen Seelsorgebereich,

der bei vielen nicht auf dem „Radar“ vorkommt.

Welch ein Segen.

  1. Flughafen-Gleichnis
Maader 10

Diese Zeilen gleich am Anfang des Buches haben mich begeistert. Sie geben in anderen Worten das wieder, was ich immer spüre, wenn ich den Airport betrete. Der Flughafen ist so viel mehr DAS LEBEN als das, was wir das Leben nennen. Das klingt paradox, ist es aber gar nicht. Der Flughafen ist Metapher, ist Gleichnis, ist Normalität. Auch wenn viele nur ab und an und vielleicht einmal im Jahr vorbeischauen, um in den Urlaub zu fliegen. „Kommen und Gehen, Landen und Abflug“, wie von Maader beschrieben, kennzeichnen unser Leben. Und die Tatsache, dass wir das „Dazwischen“, die Hetze, die Reise zwischen A und B, allzu oft vernachlässigen, weil wir uns nur auf die Ankunft fokussieren, ist die tückischste Krankheit, die den Menschen das Leben kostet. Am Flughafen wird all dies offensichtlich, tritt aus dem Versteck der vermeintlichen „Ausnahme“ heraus, um für den aufmerksamen Betrachter oder eben Seelsorger zur Faszination und Herzensaufgabe zu werden.

2. Bildung

Maader 31

Als Kriegskind war Maader froh über alles, was ihn einem stabilen Leben näher brachte. Und doch war da unterschwellig die Suche nach „mehr“. Maader schildert den Glaubensweg hin zum Pallottiner-Priester ganz unpathetisch und doch berührend. Natürlich baut sich dieser Spannungsbogen über das Buch hinweg auf. Natürlich möchte man wissen, wie das denn nun kam, dass aus dem ehemaligen Soldaten, Industriekaufmann und Kriegstraumatisierten ein katholischer Ordensbruder und schließlich Flughafenseelsorger wurde. Und die Antwort liegt eben nicht einfach im „Beten und Arbeiten“. Nein, Maader macht ganz klar, dass der Weg über die Schule führte und schließlich über das Studium. Nicht viele seiner Freunde hielten durch. Er tat es.

Wieviel “Erfolg” im Leben ist allein durch das “Durchhalten” möglich?

Wie oft verflucht man sich selbst dafür?

Wieviel Hoffnung und Liebe kann man anderen dadurch geben?

Ich kann mich mit dieser Passage so sehr identifizieren, nicht weil ich katholische Nonne werden will! Doch die Bildung als Schlüssel zu allem — letztlich der Freiheit und dem Glauben, so meine These — liegt genau darin. Es ist ermutigend zu lesen, dass Maader diesen Weg gegangen ist, und zwar nicht wissend, ob er den Anforderungen standhalten würde und nichtsahnend, welcher Ort für sein Wirken ihm letztlich beschert werden sollte. Er hielt fest an seinem Glauben und setzte sich immer wieder durch. Dabei half seine Kriegsvergangenheit. Dabei half ihm seine eigene Positionierung und sein Selbstbewusstsein. Ich glaube sehr stark daran, dass diese Positonierung gerade im Kirchenleben essenzieller ist als an manchen anderen Orten. Und der Bildungsweg gibt einem die innere Stärke und Sicherheit, zum eigenen Glauben zu stehen — nach innen und nach außen.

3. Dankbarkeit

Maader 173

Der Leser lernt im Buch annähernd genauso viel über den 2. Weltkrieg und den Aufstand gegen das Nazi-Regime wie über die Flughafenseelsorge. Das finde ich nicht übertrieben oder störend, denn die Bezüge sind immer wieder klar. Wenn da davon die Rede ist, dass man beim Fliegen einen Piloten und einen Co-Piloten hat, die sich die Aufgabe teilen, dann macht die Metapher Sinn. Genauso ist es hier an der Stelle, wo es um die Kinder geht, die dankend die Waren der Rosinenbomber angenommen haben.

„Dankbarkeit und Bescheidenheit“ sind die Schlüssel zum Glücklichsein, schreibt Maader hier. Ich kann dem nur zustimmen. Wahre Dankbarkeit aber setzt den Verlust des Egos voraus. Nur wenn ich anerkenne, dass die meisten Dinge, für die ich nicht dankbar sein kann, Dinge sind, die ich „anders“ haben will, weil es eben meinem Willen entspricht, kann ich mich frei machen davon, kann alles nehmen, wie es eben ist. Und erst dann kann man sich wirklich um die Seelen der anderen kümmern. Und wenn man das tut, gerade am Flughafen — dem Ort, an dem Seelen aus aller Welt starten und landen, in Höhen fliegen und bruchlanden — erfährt man wahren und tiefen Dank. Der muss einem gar nicht explizit gesagt werden. Man spürt ihn für sich selbst, auch in den ganz dunklen Momenten.

Seelsorge heißt DA SEIN.

Das bleibt auch hier die Essenz für mich.

Maader war da.

Viele Jahrzehnte.

Und dieses Buch bleibt auch da nach der letzten Seite.

Dafür bin ich DANKBAR.

Genauso wie für meinen Unfall gestern Morgen.

Ohne Start keine Landung.

Wer sich gar nicht traut zu fliegen,

der wird die Welt auch nicht von oben sehen.

Und das lohnt sich.

Das lässt um die Ecke denken.

Und erkennen,

wie klein die Welt sein kann.

Wie kleinbürgerlich man von unten denkt.

Auch in der Kirche.

Aber das muss eben nicht sein.

Und genau deshalb ist das Buch ein Ansporn.

Für wache Augen.

Für das Suchen.

Für das Helfen vor Ort.

Flughafenseelsorger warten nicht auf die Menschen.

Sie gehen zu den Menschen im Terminal.

ZUKOMMEN, HINHÖREN, AUFFANGEN.

Das sind alles Verben,

die brauchen mehr als einen Akteur.

Darum geht es.

Gemeinschaft der Menschen in all ihrer Vielfalt.

DANKE, Walter Maader.

Reflexionsfragen

1) Teilst Du die Idee, dass der Flughafen ein Gleichnis für das Leben ist? Warum/nicht?

2) Wenn Du noch mal Kind wärst, würdest Du Dir mehr Bildung aneignen? Warum/nicht?

3) Wie kann man Dankbarkeit lernen aus Deiner Sicht?

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