# 423: BOOK OF THE WEEK — “Zum Gedenken an Dorothee Sölle”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Diese Woche habe ich auf einer Konferenz einer Laudatio zugehört. Das war auch das Einzige, was ich von der Konferenz gehört habe. Ob es sich gelohnt hat, kann ich nur so beantworten, dass ich es heute offensichtlich erwähnenswert finde. Es ist schon bezeichnend, dass Laudationes im Grunde immer gehalten werden, wenn der Gefeierte schon längst den Zenit seines Schaffens überschritten hat. Dann werden die Trophäen gelistet und allerlei sonstige große Taten. Es versteht sich von selbst, dass all das als “wichtig” betrachtet wird.
Ein Schelm, wer das hinterfragt.
Für wen überhaupt “wichtig”?
Für was war es “gut” in der Welt?
Ich weiß, dass man in der Universität solche Fragen besser nicht stellen sollte. Ich kann nicht anders. Wenn ich in einen Vortragssaal schaue, in dem nur betagte Geschöpfe sich mehr oder weniger selbst zelebrieren und nicht verstanden haben, dass sie nicht die Zukunft des Feldes sein werden, dann ist das bedenklich. Dabei bin ich die Letzte, die die Lebensleistung von Menschen nicht anerkennt. Ich habe aber gelernt, bei Wissenschaftlern auf eine Leistung zu schauen, die ich früher vernachlässigt habe:
Wie viele Nachfolger hat der Mensch hervorgebracht?
Wie viele Talente hat er/sie gefördert?
Wie viele wären ohne sein Denken nicht die, die sie heute sind?
Im vorliegenden Fall der Laudatio kann ich es nicht sagen. Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass mit Sölle jemand gefeiert wurde, die nicht schon „erledigt“ war am Ende ihres Lebens, als man ihrer gedachte. Im Gegenteil — ihr Denken hatte so viel Kraft, dass es noch heute in Menschen wie mir ein Feuer entfacht. Sie hat nicht nur zum Denken angeregt und inspiriert, nein, sie hat berührt. Und vor allen Dingen hat sie das bei einer breiten Zielgruppe gemacht, nicht nur bei Akademikern in einer Bubble hinter den Mauern des Elfenbeinturms. Das bedeutet etwas und das macht auch die Beiträge in diesem Buch aus. Allen Sprechern bedeutete Sölle etwas und sei es nur die Tatsache, dass sich Hochschuloffizielle noch nach ihrem Tod dafür schämen, sie nie berufen zu haben.
Wie sagte jemand vor vielen Jahren zu mir? “Die Guten bleiben nicht in der Uni.”
Sölle blieb trotzdem, auf ihre eigene Weise, wie alle Beitragenden zeigen.
1. Taten
Bei diesem Absatz gibt es wenig hinzuzufügen. Ich kann nur sagen, dass ich das vielleicht spät gelernt habe. Aktuell denke ich viel darüber nach. Vielleicht habe ich mich in der Vergangenheit zu sehr von Worten leiten lassen. Als Schreiberling habe ich einen besonderen Bezug zu Worten. Sie berühren mich. Ich will andere damit berühren. Aber Sölle hat gezeigt, wie beides stark sein kann, wie es wirkt. Der Satz oben bedeutet genau das. Die Taten stehen hinter den Worten. Die Worte bleiben nötig. Das sollten alle Menschen nicht vergessen — in besonderer Weise Christ/innen.
2. Interdisziplinarität
Mit dem Thema habe ich im Wesentlichen mein ganzes letztes Buch verbracht. Ich bin müde, es zu verwenden und zu erklären. Bezeichnend ist, dass Sölle für Out of the Box Professur über den grossen Teich musste. Wahrscheinlich wird das auch mein Schicksal sein — wenn ich es so will.
3. Widersprüchlichkeit
Hier ist meine Antwort ganz einfach: In der Mystik gibt es keine Widersprüche. Wer die Einheit gesehen hat, vergisst sie nicht. Es gibt keine künstliche Trennung mehr zwischen Fächern, Themen und Menschen. Für einen selbst bedeutet das Gnade und Liebe. Doch im Alltag kostet es Kraft. Steffensky verstand das. Insgeheim wünschen wir uns alle einen solchen Gefährten. Aber vielleicht schließe ich nur von mir auf andere. Auf jeden Fall wäre es schon ganz schön, wenn wir mehr widersprüchliche Menschen hätten, die ihre Gaben in aller Breite leben. Das wird leider nicht passieren, da wir kaum noch Sölles haben.
Wir können uns aber alle daran probieren, ihre Widersprüchlichkeit zu leben.
Das geht, wenn sie uns etwas bedeutet.
Mir bedeutet sie viel — auch diese Schrift zu ihren Ehren.
Reflexionsfragen
1) Stehst Du wirklich hinter Deinen Worten? In welchen Lebensbereichen ist dies nicht so und möchtest Du, dass es anders wird?
2) Warum, glaubst Du, dass manche Wissenschaftler nur in den USA Chancen haben?
3) Sind Dir Menschen, die scheinbar viele Gegensätze in sich vereinen oder nach außen tragen suspekt? Warum/nicht?
*Hinweis: Aufgrund eines technischen Fehlers wurde dieser Beitrag nicht am 09.10.2022 veröffentlicht, wie eigentlich gedacht. Er wurde jedoch an diesem Tag erstellt.