# 422: BOOK OF THE WEEK — “Menschen stärken”

Silke Schmidt
8 min readOct 2, 2022

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Lammer, Kerstin, et al. (2016). Menschen stärken: Seelsorge in der evangelischen Kirche.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Auf meinem Schreibtisch steht seit einer ganzen Weile eine selbst beschriebene Karte mit einem Smiley. Darauf ist zu lesen: „EMPOWER“. Dieses Wort habe ich da mal notiert, als ich einen wichtigen Moment der Klarheit hatte, was meine eigene berufliche „Mission“ angeht, wenn man es so nennen will. Wenn man es auf einen Nenner bringt, dann ist das Ziel und die Methode zugleich. Es geht mir bei allem darum, Menschen stärker zu machen als sie denken, sein zu können. Meistens sind sie es schon längst, aber es hilft, ihnen das bewusst zu machen, damit sie selbstwirksam handeln. Dabei ist wichtig hervor zu heben, dass dies nicht heißt, dass ich stark oder stärker bin als mein Gegenüber. Es geht vielmehr darum, den Blick von außen zu nutzen, Kräfte und Mut zu mobilisieren. Und es geht auch darum, die Kraft, die ich habe, anderen mit zu geben.

Das war nicht immer so.

Deshalb ist das Leben auch eine Reise.

Man weiß nicht, wo man „ankommt“.

Nun bestellte ich mir also vor einigen Wochen dieses Buch mit einem ähnlichen Titel. Voraus ging meine Faszination für die Seelsorge, von der ich vor einiger Zeit noch überhaupt nichts wusste, auch wenn ich sie unbewusst vielleicht schon lange praktiziert habe. Bewusst tue ich dies erst noch nicht mal seit einem Jahr mit großer Freude und Hingabe. Wenn mich eines in den Wahnsinn getrieben hat bei im Grunde allen anderen beruflichen Tätigkeiten und Rollen, so ist es die Lücke zwischen Reden und Machen, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Normen und Selbstverständnis. All das, das wird unten noch mal auftauchen, ist nicht nur in der Theologie anders, zumindest im Idealfall, sondern insbesondere in der Seelsorge, die Lammer und die anderen Autoren als „Muttersprache“ der kirchlichen Arbeit verstehen (Bosse-Huber qtd. in Lammer 11). Zurecht.

„Ich war krank, und ihr habt mich besucht. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ (Mt 25, 36)

  1. Gelebter Glaube
Lammer 17

Lammer und ihre Co-Autor/innen reduzieren sich in diesem kleinen Büchlein auf die Basics — auf das Wesentliche. Und nein, es ist keine Selbstbeweihräucherung der evangelischen Kirche und ihrer Seelsorgeangebote. Im Gegenteil, gerade im letzten Teil werden sehr viele praktische Anregungen zur Weiterentwicklung der Seelsorge und damit auch ihrer strukturellen Voraussetzungen geteilt, die nur möglich sind, wenn man sich dem Thema aus einer Innenperspektive mit der nötigen kritischen Distanz widmet. Ich werde diesen Teil hier jedoch nicht behandeln, da es mir in meinen kurzen Besprechungen ebenfalls nur um die Essenz des Inhaltes geht, der mir wichtig ist, zu teilen. Anregungen und Änderungsvorschläge sind immer wichtig, aber sie sind immer auch Zukunftsmusik. Das, worum es mir geht, ist die Seelsorge, wie sie bereits stattfindet und wie ich sie aktuell kennen und lieben lernen darf. Dafür ist die oben zitierte Passage essenziell und in mancherlei Form auch berührend für mich.

Als Wissenschaftlerin gehört man qua Beruf zur „labernden Zunft.“ Wissenschaftler sind dafür bekannt, dass sie viele Worte machen — gesprochen und auf dem Papier. Ob das immer kluge Worte sind, muss jeder selbst beurteilen. Ob es immer so viele und komplizierte Worte braucht, ebenfalls. Fest steht, dass Wissenschaftler — zumindest in der heutigen Zeit — nicht dafür bekannt sind, dass sie aktiv mit ihrem Handeln eine Wirkung erzielen. Bei den Theologen ist dies, da es sich um eine der ursprünglichen drei Professionen handelt (daneben die Medizin und Jura), etwas anders. Theologen haben sich im Laufe ihrer Ausbildung immer auch mit praktischen Fragen befasst; und sei es nur die simple Frage, wie man einen Gottesdienst oder eine Beerdigung gestaltet. Damit geht noch nicht automatisch einher, dass man es auch gemacht — vollzogen — hat. Doch bei den meisten ist dies der Fall.

Wenn ich nun also von gelebtem Glauben spreche, dann ist dies in der Seelsorge das Alleinstellungsmerkmal, da es so immanent mit dem Glauben an Jesus und sein Leben verknüpft ist. Es gibt auch hier mehrere Stufen der Persönlichkeitsentwicklung, zumindest aus meiner Sicht. Mir kommt ein Zitat von Maya Angelou in den Sinn, das ich vor einigen Tagen gehört habe. Sie sagte, ich paraphrasiere: „I know a lot. And I have been able to apply what I know. That is quite a lot.” Die Kraft dieser Worte wird einem erst bewusst, wenn man selbst mal in einem Bereich angekommen ist, wo einem nicht mehr auffällt, wo das alles herkommt, was man gerade macht, und welche schicken Worte man dafür verwenden kann. Nein, man setzt es einfach um. Man zitiert nicht irgendwelche schlauen Bibelpassagen, in denen Jesus dieses oder jenes Gutes getan hat.

Man MACHT es ihm gleich.

In der Seelsorge ist dieses, wenn man so will, stillschweigende Machen, dieses Nachfolgen, deshalb so wichtig, weil gerade Seelsorge meist weniger Worte bedarf. Das mag für Menschen, die wenig mit Menschenarbeit zu tun haben, zunächst ungewöhnlich klingen. Für sie hat mit Menschen arbeiten immer irgendwie mit „Reden“ zu tun. Aber die Kraft des Wortes, das theologisch begründet ist, liegt eben nicht an den vielen Worten. Auch gibt es nie die „richtigen“ Worte, wie manche zitatewütigen Pseudo-Intellektuellen, die es natürlich auch unter Theologen gibt, gern glauben machen wollen. Nein, mit Menschen arbeiten, insbesondere beim Umgang mit ihrer Seele, bedeutet oftmals oder immer, eben nichts zu sagen, sondern zuzuhören und DA ZU SEIN — mit Körper, Seele, Geist und letztlich dem, was man Liebe nennt — Nächstenliebe.

2. „Zwecklosigkeit“

Lammer 21

Man könnte meinen, Menschen beim Wachsen zu helfen, sie zu bestärken, ihre Seele zu trösten, kann man auch in ganz vielen anderen beruflichen Rollen. Das stimmt. Viele davon habe ich auch in der Vergangenheit ausgefüllt und tue dies teilweise noch. Ob als Hochschullehrerin, Coach oder Beraterin, sogar als Autorin oder journalistisch Arbeitende — in all diesen Rollen geht es irgendwie darum, Menschen zu begleiten, um ihr Leben zu verbessern, vorwiegend im Beruf. Doch in all diesen Rollen bin ich irgendwann an ein Dead End gestoßen, das ich zunächst gar nicht benennen konnte. Beziehungsweise hatte ich die Undurchdringbarkeit dieses Dead Ends total unterschätzt: Es geht immer um ein Ziel, um einen Zweck. Es geht NIE nur um den Menschen.

Doch das stimmt so nicht so ganz,

wie ich zumindest meine.

Denn das Seelenheil, das Glück, die Liebe — das sind immer unterschwellig die eigentlichen „Ziele“ des Menschen, die hinter den vermeintlich offensichtlichen Problemen liegen. Doch die darf man nicht ansprechen bzw. darf man sie nicht anfassen. Denn dafür hat man keinen Auftrag. Im Gegenteil, man muss immer und ständig Ziele formulieren und verfolgen. Alles muss einen Zweck haben, eine Zielgruppe, eine Käuferschaft. Das kann man auch nicht unter den Teppich kehren. Man wird immer wieder darauf zurückgeworfen. Und dann kann man nicht einfach sagen: „Leute, es geht mir einfach nur um Euch. Ich sehe doch, dass es euch nicht gut geht.“ Oder: „Ich mache das hier eigentlich nur, weil ich sehe, dass es Euch Freude macht und Euch damit besser geht.“

Nein.

Das geht nicht.

Um den Menschen

Nur um den einzelnen Menschen

Darf es in diesen anderen Rollen nicht gehen.

Das betrifft übrigens auch den Bereich des Coachings. Ja, dabei arbeitet man mit einer Einzelperson und ja, deren Bedürfnisse werden ganzheitlich in den Blick genommen. Aber auch hier geht es um einen Zweck, der außerhalb der Person geht, nämlich um die berufliche Zielerreichung oder Leistungssteigerung. Will sagen: Alles muss immer und überall einen Zweck haben. Das endet dann, wenn der Mensch in den Abgrund der Sinnlosigkeit schaut. Dann erkennt er, dass alle zuvor verfolgten Zwecke eine Selbstlüge waren. Einen „Ersatz“ dafür hat er aber noch nicht in Aussicht.

Da kommt der Glaube ins Spiel.

Und daher geht Seelsorge im ursprünglichen Sinne auch nicht ohne Glaube

Und ohne theologisches Selbstverständnis.

Sonst habe ich dem Menschen nichts anzubieten,

das seine Seele erfüllen könnte.

Ich sage nicht “trösten”.

Denn Trost ist am Ende nur das,

was man sich selbst erarbeiten kann.

3. Weltoffen

Borck/Roser 49

Wenn Menschen lernen — und das habe ich auch erst vor einiger Zeit — dass Seelsorge christliche bzw. kirchliche Wurzeln hat, dann sind sie verwundert, solche Zeilen wie die oben zu lesen. Christen sind oft dafür bekannt, dass sie Gutes nur „unter ihresgleichen“ tun. Das ist auch das, was mich an Kirche abschreckt. Denn wenn ich mal in einen Gottesdienst gehe, dann habe ich meist Null Komma Nix mit den Leuten um mich herum gemeinsam. Das klingt jetzt sehr unchristlich, denn natürlich teilen wir eigentlich den Glauben, das Menschsein und viele andere Dinge. Trotzdem fühlt es sich für mich nie so an, weil ich persönlich nicht zwischen Christen und Nicht-Christen unterscheide. Für mich gibt es nur Menschen. Und genau deshalb ist die Seelsorge der Ort innerhalb der Kirche, vielleicht der einzige, in dem ich den Glauben so leben kann oder könnte, nämlich für alle Menschen.

Jesus hat auch nicht nach Christen und Nicht-Christen unterschieden.

Die gab es damals noch gar nicht.

Deshalb ist Jesus auch Jesus.

Seelsorge ist bei den Menschen, wo Menschen Hilfe brauchen. In der Regel geht es dabei um Extremsituationen — um Schwellenmomente, wie man es oft nennt. Es sind Momente, in denen Menschen den Glauben an die Welt und das Gute aus irgendwelchen Gründen und vielleicht für immer verloren haben. Genau dies sind Momente, in denen Menschen auch sehr wenig dafür aufgeschlossen sind, von anderen Menschen berührt zu werden. Im Gegenteil, düstere Momente sind meist deshalb so düster und einsam, da man sich von aller Welt verlassen fühlt — von Gott gar nicht zu reden, ob man nun vorher an ihn geglaubt hat oder nicht. Worauf ich aber hinaus will: Wenn in genau solch einem Moment ein Mensch vor einem steht, neben einem sitzt, bei einem ist — ein Mensch, der einige Momente vorher ein Fremder war. Wenn dieser Mensch nun zeigt, dass er mit Liebe bei einem ist, einen so annimmt, wie man ist. Mit all dem Leid. Den Tränen. Der Wut. Einfach so.

Dann ist das das gelebte Evangelium.

Das erreicht Menschen.

Es kann ihre Seele verwandeln.

Unabänderlich und wundersam.

Von Menschenhand geschenkte Wärme.

Und die Erkenntnis,

dass es doch noch eine andere Wahrheit gibt.

Als die Dunkelheit und das Böse,

was in der dunkelsten Stunde das Leben zerreißt

und den Schmerz so übermächtig macht,

dass Leben undenkbar scheint.

Es geht doch irgendwie weiter.

Wenn nur jemand da ist,

nur ein Einzelner.

Der gar nicht da sein müsste

es aber ist.

Und zwar ohne Wertung

und ohne Anforderungen.

Einfach so.

Aus Liebe zu den Menschen.

Aus der Verantwortung heraus,

dass wir alle Not leiden können.

Und aus der Gewissheit,

dass Seelsorge stärkt.

Reflexionsfragen

1) Was sollte Seelsorge nach Deinem persönlichen Verständnis leisten? Wer sollte sie durchführen können?

2) Findest Du, dass alles im Leben einen „Zweck“ haben sollte, damit man seine Lebenszeit nicht vertut? Wo begegnet Dir Zweckorientierung am meisten?

3) Würdest Du selbst Seelsorge von einer kirchlichen Einrichtung annehmen? Warum/nicht?

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