# 421: BOOK OF THE WEEK — “Hannas Aufbruch”

Silke Schmidt
6 min readSep 25, 2022

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Schottroff, Luise, und Dorothee Sölle (1990). Hannas Aufbruch: Aus der Arbeit feministischer Befreiungstheologie: Bibelarbeiten, Meditationen und Gebete.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Dorothee Sölle hält mich weiter in ihrem Bann. Das wird sich auch so schnell nicht ändern. Auf meinem Tisch liegen noch viele Bücher von ihr. Dieses hier hat mich in der Uni-Bibliothek gefunden. Wie so oft war ich auf der Suche nach einem ganz anderen Werk und fand mich plötzlich vor einer Reihe von Büchern zu feministischer Theologie. Allein das ist etwas, das mich gerade sehr umtreibt. Als „Reise an meine Wurzeln“ habe ich das unlängst beschrieben. Während mich mein eigenes Fach von Feminismusthemen weggebracht hat, erweckt die Theologie nun wieder dieses ursprüngliche Interesse, das meine allerersten Schritte in der Universität begleitet hat.

Was ich damit mache, weiß ich noch nicht. Heute bin ich da, wo ich weiß, dass ich eigentlich nichts mehr mache, um “etwas damit zu machen.” Der einzige Sinn und Zweck des Lesens ist es, die Inhalte in mir aufzusaugen, damit sie Teil von mir werden. Und irgendwann bringt das Leben dann einen Moment, in dem genau das abgerufen wird, um einen Beitrag zu leisten. Und dieser Beitrag ist kein wissenschaftliches Paper oder ein Vortrag vor Fachpublikum. Es ist ein Beitrag in der Praxis; im Leben von Menschen. Wo und wie genau dieser Beitrag sich entfaltet, steht in den Sternen. Es ist diese Ungewissheit des „Nutzens“ von Bildung, mit dem ich früher nicht umgehen konnte, ihn vielleicht auch gar nicht gesehen habe. Überhaupt geht es nicht um Bildung sondern um persönliche Weiterentwicklung. Doch ich weiß, dass beide Begriffe nichtssagend sind, weil sie fast jeder benutzt.

Das ist der Fluch der Sprache.

Das ist der Fluch von Sprechen an sich.

Deshalb ist Schweigen so viel machtvoller.

Nicht immer.

Aber oft.

Schottroff und Sölle nennen das Buch Hannas Aufbruch. Allein der Titel weckte Neugier in mir. Aufbrüche haben immer etwas Faszinierendes — zumindest für mich. Das Wort suggeriert mehr als “Neuerung” oder “Wandel”. Es zeigt, dass etwas völlig Neues beginnt, und zwar vorwärtsgewandt. Und Brüche sind immer radikal. Sie sind so radikal, dass wir meistens versuchen, sie zu vertuschen. Uns selbst gegenüber, anderen gegenüber und rückblickend im eigenen Lebenslauf. Nur wenigen gelingt es, die Brüche lieben zu lernen und dann auch darüber zu sprechen. Ich weiß, dass das Sprechen über die eigene Geschichte von vielen heute nur als Ego-Trip und Selbstmarketing ausgelegt wird. Es hat mich lange gebraucht, diese Stimmen wieder abzustreifen. Nur wer über die eigenen Brüche spricht und ausstrahlt, wie sehr sie ihn/sie zum Positiven verändert haben, kann anderen damit Mut machen, den eigenen Weg zu gehen.

Hanna ist eine Frau aus dem Neuen Testament. Ich kenne sie nicht, denn ich habe sie noch nicht studiert. Wichtig für das Verständnis des Buches ist aber, dass es sich bei Hanna um eine starke Frau, sogar eine Prophetin handelt, die der Demütigung und dem Leiden trotzt, sich auf den Weg macht — aufbricht. Das genau ist es, das den beiden Autorinnen wichtig ist. Es ist eine Sammlung von unterschiedlichen Fragmenten, die so einzigartig Theologie mit Politik verbindet, wie es nur Sölle und Schottroff zu tun vermögen. Ich kann nicht sagen, warum genau man dieses Buch lesen sollte. Am treffendsten finde ich sie Selbstaussage der Autorinnen, die das Werk als Lern- und Arbeitsbuch verstehen für Frauen, die sich mit der Bibel auf den Weg machen. Ich würde sagen, es ist für jede(n) lesenswert, der die Bibel auch völlig ohne Vorwissen kennen lernen will, um daraus Anstöße für das eigene Leben zu gewinnen..

  1. Glatte Biographien
Schottroff und Sölle 24

Man muss sich nur in Erinnerung rufen, dass dieses Buch 1990 erschien. Braucht es noch mehr Worte? Wir haben jetzt 2022. Wann begreifen Arbeitgeber, Universitäten und viel wichtiger noch — wir alle selbst — dass „glatte“ Lebensläufe nicht lebenswert sind. Sie sind annähernd möglich, keine Frage. Es gibt aber Menschen, die werden ihr Leben lang von sehr schlimmem Unheil verschont. Andere verbringen ihr Leben damit, es glatt zu bügeln und alles Unerschütterliche von sich abzuwenden.

Ist das lebenswert?

Ist das liebenswert?

Gibt das Freiheit?

2. Zeit

Schottroff und Sölle 76

Es stimmt schon, was Sölle hier in Bezug auf ihre Reaktion auf den Schüler schreibt. Man kann traurig und sogar zornig werden. Man kann aber auch glücklich sein über das Selbstbewusstsein, das aus der Haltung des Schülers spricht. Die meisten von uns werden irgendwann einsehen, dass unsere Lebenszeit, auch bei allen Optimierungs- und Gesundheitsbemühungen, nicht in unseren Händen liegt. Es ist dabei völlig egal, welcher „Macht“ man sie zuschreibt. Es muss nicht Gott sein. Wichtig ist dabei nur, und so lese ich Sölles Werk an sich, dass wir uns bewusst sind darüber, jeden Tag das Beste aus unserer Zeit zu machen. Die Entscheidung, was genau das ist, nimmt uns keiner ab. Das müssen wir selbst herausfinden und auch dazu stehen — uns selbst und der Welt gegenüber.

3. Feigenbaum

Schottroff und Sölle 85

Die beiden Autorinnen sprechen nicht nur über die Bibel, sie beziehen auch Literatur und Lyrik mit ein. Diesem Kapitel ist ein Gleichnis vom Feigenbaum aus Lukas 13 und Markus 13 vorangestellt. Sölle behandelt es und fügt ein Gedicht von Bertold Brecht aus dem Jahre 1934 ein, das ich hier zitiere:

Der Pflaumenbaum

Im Hofe steht ein Pflaumenbaum
Der ist klein, man glaubt es kaum.
Er hat ein Gitter drum
So tritt ihn keiner um.

Der Kleine kann nicht größer wer’n.
Ja größer wer’n, das möcht er gern.
’s ist keine Red davon
Er hat zu wenig Sonn.

Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum
Weil er nie eine Pflaume hat
Doch er ist ein Pflaumenbaum
Man kennt es an dem Blatt.

Die Passage oben folgt auf das Gedicht und offenbart Sölles feministische Interpretation des Gedichtes. Es hat mich sehr berührt, denn genauso ist es. Ich laufe ständig umher und sehe insbesondere Frauen, die wie der eingepferchte Pflaumenbaum kaum wachsen können. Das Schlimmste daran sind aber nicht die Gitter. Das Schlimmste für mich ist, dass sie noch nicht mal in Erwägung ziehen, die Gitter abzureißen. Ja, sie sehen die Gitter nicht mal mehr. Ich weiß, dass das arrogant und anmaßend klingt. Vielleicht sitze ich selbst im Gitter und merke es nicht? Kann sein. Trotzdem stimmt für mich, was Sölle durchweg schreibt: Insbesondere Frauen bleiben weiterhin “unter ihren Möglichkeiten”, auch wenn ich diese Formulierung nicht sonderlich mag.

Wichtig für mich persönlich ist aber auch der Blick von außen auf einen selbst und auf die anderen. Wir sind ständig geneigt, mit unserer Wahrnehmung im Hier und Jetzt fest zu stecken. Ja, selbst die Helfenden unter uns, die Menschenarbeiter, setzen alles daran, an das Gute im Menschen und an den Wandel des Menschen zu glauben. Ohne diesen Glauben kann man schlichtweg viele Arbeit gar nicht machen. Trotzdem sind wir oftmals geneigt, diesen Glauben zu verlieren. Ja, vielleicht haben wir ihn auch einfach nicht, so gern wir ihn haben wollen. Daraus folgt, dass wir anderen aber auch uns selbst, den inneren Wandel nicht zutrauen. Wir fallen, auch bei aller persönlichen Reife und innerem Wachstum, immer wieder in den (Irr-)Glauben zurück, dass wir uns doch nicht ändern können, dass unsere eigene Schlechtheit (Sündhaftigkeit) überwiegt.

In solchen Momenten hilft es, ein Buch wie dieses zur Hand zu nehmen. Und es hilft auch, sich den eigenen Lebensweg bewusst werden zu lassen und wert zu schätzen. Es stimmt sicher, dass wir das, was wir mal in uns trugen, auch nie ganz verlieren. Dazu gehören all die schlechten Seiten an uns, die Fehler, die Verletzungen, die Bösartigkeit, ja, auch die Gewalt, zu der wir alle fähig sind. Dazu gehört aber auch das Erkennen, dass Wandel wirklich möglich ist. “Vom Saulus zum Paulus” ist keine bloße Illusion. Diese Bekehrung kann in uns allen stattfinden, wenn wir bereit sind, alte Welt- und Selbstbilder durch neue zu ergänzen. Dazu gehört auch, sich radikal zu emanzipieren, auch von den eigenen Wurzeln und oft den Eltern. Wie Sölle auf Basis des Bibelgleichnisses schreibt, es ist nie zu spät für eine Umkehr.

„Niemand ist nur das, was wir jetzt von ihr oder ihm sehen.“ (Sölle 85)

Reflexionsfragen

1) Hast einen „glatten Lebensweg“? Wenn ja, ist Dir das wichtig?

2) Wenn Du noch drei Monate zu leben hättest, würdest Du weiter dem Beruf nachgehen, den Du jetzt hast? Warum/nicht?

3) Glaubst Du an eine Umkehr „vom Saulus zum Paulus“? Welche Beispiele von Menschen fallen Dir aus Deinem eigenen Leben ein?

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