# 417: BOOK OF THE WEEK — “Den Tod begreifen”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Man fragt sich, was in mich gefahren sein möge, dass ich an einem freudigen Sommertag, den ich reisend in Brüssel verbringen durfte, über den Tod schreibe. Bis vor einer halben Stunde war des Rätsels Lösung auch noch nicht so klar. Ich wusste nur, dass dieses Buch schon so lange lag und ich heute nicht einen Roman oder sonstige längere Lektüre „weglesen“ könnte. Also entschied ich mich hierfür. Doch vollends erschloss sich mir die Wahl erst, als ich eben mit einem sterbenskranken Hostel-Besitzer gesprochen habe. Wir hatten ein wunderbares Gespräch. Er hat sein Leben wunderbar gelebt. Und ich bin sehr glücklich, nach einigen Umwegen diese Unterkunft hier endlich gefunden zu haben.
- Geschichten
Was ich an Lammers Büchern liebe, ist der Kontrast. Und zwar gibt es diesen Kontrast zwischen scharf formulierten Thesen und empirischen Fakten auf der einen Seite und den einfühlsam geschilderten Fallbeispielen auf der anderen. Vielleicht habe ich noch zu wenige Theologiebücher gelesen, um beurteilen zu können, ob das in der Theologie „gängig“ ist. Es kann schon sein. Für dieses Buch ist es egal. Hier steht eine ganz klare Erfahrungssituation am Anfang eines Buches, das es sich zum Ziel gesetzt hat, eine Lücke in der Trauerbegleitung zu schließen — praktisch und theoretisch. Das ist nicht irgendein Anliegen. Es betrifft uns alle. Daher sollten wir gut hinschauen, wie das ist, mit dem Begreifen des Todes. Und eine Geschichte wie diese lässt keinen “kalt”.
2. Trauer vs. Mourning
Lammer rezipiert viel anglo-amerikanische Literatur zum Thema. Das freut mich natürlich. Denn ich bleibe klar bei dem Standpunkt, dass wir (Deutschen), um Innovationen in der Wissenschaft herbei zu führen, weiterhin in die USA schauen müssen — ob uns das passt oder nicht. Was den Begriff der Trauer angeht, so ist das Englische wesentlich differenzierter. Am Ende könnte man sagen, dass es einem als Betroffener egal ist, wie genau sich das Gefühl nennt, das man hat. Ist es aber nicht.
„I grieve that grief can teach me nothing. (Ralph Waldo Emerson)
Das hat Emerson mal gesagt, einer meiner wenigen Lieblingsautoren der Amerikanistik. Er hatte nur recht, wenn man die Begriffe differenziert, so wie es Lammer tut. Am Ende denke ich sehr wohl, dass uns die Trauer sehr vieles lehren kann. Doch „die“ Trauer gibt es eben nicht. Es gibt aber eine Menge davor, was automatisch in den Gang kommt, sobald ein geliebter Mensch stirbt. Und es gibt sehr viele unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Das genau verdeutlicht Lammer in dem Buch und mischt damit immer wieder eigene Trauerbegleitungspraxis mit Erkenntnissen aus der „Grundlagenforschung“ (wobei dies bei einem so interdisziplinären Feld vielleicht der falshce Begriff ist).
3. Verdrängung
Verdrängung spielt natürlich im konkreten Todesfall manchmal eine Rolle. Man will nicht wahrhaben, dass der geliebte Mensch „nicht mehr ist“. Hier geht es aber um die kulturelle Dimension. Hier geht es darum, dass Sterben einfach weggesperrt wird — es wird delegiert und privatisiert. Oberstes Motto ist: „Bloß nicht zu Hause“ dicht gefolgt von „bloß nichts selbst machen“. Das ist zu verstehen, keine Frage. Aus dem heutigen kulturellen Umfeld heraus möchte „man“ das nicht. Man will den Tod nicht sehen, egal, wie hilfreich genau das vielleicht sein möge.
Ich habe darüber oft nachgedacht, wenn ich im Ausland war.
Ich weiß auch, dass wir die Deutschen zu nichts zwingen können.
Aber ein Buch wie das von Lammer ist ein Anfang,
den Blick mal zu weiten –
auf andere Trauerkulturen.
Ich danke heute Abend CB in Brüssel, der mich hier und heute gelehrt hat, wie lebendig das Sterben sein kann.
Reflexionsfragen
1) Hast Du schon mal einen Sterbenden begleitet? Von welchem Punkt an?
2) Findest Du im Deutschen alternative Begriffe für „Trauern“?
3) Wie findest Du es, dass in einigen Dorfgemeinden noch traditionelle Riten beim Todesfall stattfinden, z.B. Waschen und Ankleiden durch die Angehörigen, Aufbahren, Sargtragen durch Freunde?