# 415: BOOK OF THE WEEK — “Lieben und Arbeiten”

Silke Schmidt
5 min readAug 21, 2022

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Sölle, Dorothee (2001/1985). Lieben und Arbeiten: Eine Theologie der Schöpfung

Geschichte hinter der Buchauswahl

Noch nie ist es mir so schwer gefallen, drei Passagen auszuwählen oder gar das Viele auf das Wesentliche zu reduzieren. Es geht nicht. Jede Seite in diesem Buch ist wesentlich für mich. Letzte Woche Simone Weil. Diese Woche Sölle. Beide hängen aufs Engste zusammen. Sölle hat natürlich Weil gelesen. Ich bin so beeindruckt von Sölles Schriften, ihrem Wirken, dass ich wirklich Angst habe, zu viel Inhaltliches zu schreiben. Denn ich habe lediglich einen Geschmack bekommen, nicht mehr. Aber der reicht, um zu ahnen, was und wie Theologie auch sein kann. Er reicht, um mir endlich das zu geben, wonach ich schon lange suche. Es sind nicht Antworten an sich, es sind zunächst einmal die „richtigen“ Fragen. Und die Frage nach Arbeit, nach dem Wert und Sinn von ihr, nach den existenziellen Aspekten dahinter, die treibt mich.

Und noch mehr treibt mich die Frage nach Liebe.

Sölle bringt beides zusammen.

Arbeit und Liebe.

Das genau macht Sölle aus –

Die Einheit der Unterschiedlichkeit.

  1. Liebe und Schöpfung
Sölle 13

Wer sich weder für die Bibel noch sonst für irgendwelche Sinnfragen interessiert, wird bereits an dieser Stelle gedanklich aussteigen oder gar ausflippen. So be it. Diese Beziehung zwischen Schöpfung, Arbeit und Liebe ist für mich total eingängig. Das Einzige, was den Menschen auf lange Zeit vom Computer unterscheiden wird, ist seine schöpferische Kraft. Damit geht für mich auch einher, dass der Geist den Wert ausmacht und damit auch die Geisteswissenschaften. Aber darauf will ich hier nicht herumreiten, das tue ich oft genug. Es ist nur wichtig, dass Geist und Geistlichkeit zusammenhängen — wenn man es so sehen will.

Obwohl ich mit Freud selten übereinstimme, was Sölle hier zu seinem Ansatz zur Gesundheit schreibt, ist so einfach und tief, dass es vieles andere in die Ecke stellt. Arbeiten und lieben — wenn man sich das vor Augen hält, dann wird man feststellen, es sind die Dinge, die kranke Menschen tatsächlich nicht haben — nicht können. Manche haben das schon sehr früh im Leben gelernt, manche später. Je mehr man in sich ist, die eigene Stärke und Kraft gefunden hat, umso mehr entfaltet sich die schöpferische Kraft. Es entstehen Dinge, da sie fließen. Das ist nicht erklärbar im rationalen Sinne. Und genau deshalb macht es so viel Sinn, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.

Es ist für mich schon immer zentral gewesen, was Menschen machen. Sie verbringen ihre Lebenszeit am Arbeitsplatz und sehen oft zu spät, dass es für all ihre Wünsche und Träume kein „später“ mehr gibt. Noch viel schlimmer; sie lernen nie, wie viel Schöpferisches in ihnen steckt. Sölle hat all dies nicht erst in Zeiten von New Work gedacht. Ihre Gedanken kommen aus dem Jahr 1985. Und das ist so bahnbrechend und gleichzeitig so aktuell, dass es mich umhaut. Die Sinnfrage des Lebens wird nicht verschwinden, solange es Menschen gibt. Und für mich ist sinnhaftes Leben nur als befreites Leben denkbar. Genau hier muss Hegels Knechtschaft aus der Gleichung genommen werden. Und genau deshalb ist der Glaube an das, was Christen Gott nennen, zentral.

Sölle stellte Befreiung vor alles andere.

Die Freiheit ist es, die der Mensch sucht.

Und wer auch immer sucht,

sucht auch die Liebe

und damit Gott

2. Staunen

Sölle 75

„Ohne Tränen und ohne belebendes Wasser“ — ja, diese Sicht der Mystiker, die Sölle zeichnet, das macht die Menschen aus. Das macht mich so traurig. Und wütend. Es ist so viel Leere in den Menschen. Und die Leere wird nicht gefüllt — jedenfalls nicht mit „Sinn“. Natürlich definiert diesen jeder selbst. Was aber, und da bin ich komplett bei Sölle, der Anfang aller Fülle ist, ist das Staunen. Staunen ist solch ein tolles Wort. Und wenn wir daran denken, dann kommen uns oft glänzende Kinderaugen in den Sinn. Und genau das haben wir verloren. Wir sind nicht mehr hin und weg, weil wir vermeintlich alles gesehen haben.

Das ist so schade,

denn es stimmt ja gar nicht.

Wir können jeden Tag neu sehen.

Das Beispiel von Sölle mit dem Staunen ihres Kindes über eine Uhrzeit verdeutlicht den Gedanken. Prinzipiell gibt es auch Erwachsene, die das Staunen beherrschen. Doch sie werden kaum ernst genommen. Und wenn, dann erst, wenn es Kreative sind, die ihre Bilder für Millionen verkaufen, weil andere darüber staunen. Staunen geht aber in erster Linie keinen etwas an. Das Staunen entfaltet die schöpferische Kraft nur im Staunenden. Und da ist die Natur unser Lehrer. Wer jeden Tag aufs Neue über die Welt um uns herum staunt, der kommt um Gott nicht herum. Das Christentum hat dazu zwar eine gespaltene Beziehung — der Gott in uns und allem. Aber Sölle ist genau deshalb Sölle, weil sie alle Religionen kennt und sich nicht scheut, den Mainstream Protestantismus, darin die protestanische Arbeitsethik, galant in die Ecke zu stellen.

Das macht mir Mut.

Es zeigt mir,

dass es „die“ Theologie nicht gibt.

3. Entfremdung

Sölle 126

Diese Passage zitiere ich nicht nur wegen der Wissenschaft, aber auch. Lesen, um des Wissenschaftsgestus wegen ist eine Qual. Es ist schlichtweg falsch. Ja, man wird eine Maschine. Ganz genauso, wie die Fabrikarbeiter, von denen Sölle schreibt. Ich kann nicht so viel mit dem Marxismus anfangen. Auch sehe ich Sölle gar nicht in erster Linie als Feministin. Als Mystikerin sieht sie schlichtweg die Einheit in allem. Und von dieser Einheit bewegen wir uns täglich weg — auch und gerade in der Arbeit. Wer sich nur dem Schweren und Ungeliebten widmet, weil es die protestantische Arbeitsmoral als (Glaubens-)Ideal vorgibt, der verliert irgendwann die Kraft, überhaupt zu lieben. Liebe ist nichts, was man sich erdenken und erarbeiten kann. Liebe ist eine Kraft, die nur in ihrer Fülle freigesetzt werden kann; wenn der Mensch in seiner ganzen Geschöpflichkeit ruht . In der Tat, „Lieben und Arbeiten“ gehören zusammen und ich bin Sölle unendlich dankbar, dass sie mich lehrt, was Theologie sein kann und sein darf.

Ich weiß nicht, wo der Weg hinführt.

Die Arbeit ist der Weg.

Die Liebe ist Zeichen und Ziel.

Reflexionsfragen

1) Was haben Lieben und Arbeiten für Dich gemeinsam?

2) Wann hast Du zuletzt über etwas gestaunt?

3) Kennst Du den Satz, „Arbeit muss keinen Spaß machen“? Teilst Du ihn? Warum/nicht?

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