# 414: BOOK OF THE WEEK — “Simone Weil”

Silke Schmidt
5 min readAug 14, 2022

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Beyer, Dorothee (1994). Simone Weil: Philosophin, Gewerkschafterin, Mystikerin.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Es gibt keine Zufälle. Dieses Buch fand mich nicht aus Zufall. Ich habe es in der Bibliothek im Bücher-Flohmarkt vorgefunden. Noch nie zuvor war ich in dieser Bibliothek gewesen. In keiner Bibliothek gehe ich am Bücherflohmarkt vorbei. Auch an diesem nicht. Der Name Simone Weil sagte mir etwas, aber nicht mehr. Ich habe ihn vielleicht mal gehört. Mehr nicht. Dann habe ich das Buch sofort angefangen zu verschlingen im Bus. Das habe ich schon als Kind so gemacht. Nach den ersten Seiten war es um mich geschehen. Gestern sagte jemand, man lese und schreibe nur, um nicht so allein zu sein. Ich glaube, das stimmt. Leider. Aber damit muss man eben leben. Genauso wie Simone Weil mit sich und der Welt gelebt hat, aber irgendwie nicht konnte. Schreiben konnte sie aber. Sie musste.

  1. Wichtige Fragen des Lebens
Beyer 21

Fast täglich frage ich mich, ob es nicht sehr viel besser wäre, die „wichtigen Fragen des Lebens“ nicht zu sehen und nicht darüber nach zu denken. Im selben Moment weiß ich, dass das arrogant ist. Keiner hat das Recht, das Wichtige vom Unwichtigen für andere zu definieren. Trotzdem kommt man nicht umhin, es für sich selbst anzunehmen. Und wenn man dann so entschieden jede Lücke zwischen Denken und Handeln verurteilt, wie es Weil getan hat, dann muss das unweigerlich heißen, dass man sein Leben sehr früh den Dingen widmet, die für einen wichtig sind. Weil hatte die unmittelbare Erfahrung des Leidens anderer. Sie hat sie bewusst gesucht. Ich kenne diese Intention. Und wenn man sie „durchzieht“, wie man heute sagen würde, dann muss man mit den Konsequenzen leben — bis zum Tod.

Der früh kam für Weil.

2. Ich kann, also bin ich

Beyer 28

Passagen wie diese haben mich umgehauen. Ist es verwunderlich, warum ich diese tragische Geschichte so spannend finde? So vieles von ihrem Denken entspricht dem, was ich so oft an dieser Stelle beschreibe. Ja, diese Erkenntnisse sind immer selbstbezogen. Doch ich komme nicht umhin, diese Selbsterkenntnis zu teilen. Weil hat mit den Dingen gekämpft, die viele andere nicht tangieren, eben weil sie sie nicht sehen oder es dem Gesehenen nicht erlauben, sie zu berühren. Die Themen “Phantasie” und “Intuition” sind so weit weg von dem, was wir Wissenschaft nennen. Und doch war Weil zunehmend überzeugt, dass die Wissenschaft ein größerer Hebel für das sein könnte, was sie erreichen wollte: Hilfe für leidende Menschen, insbesondere Arbeiter.

Hat sie es erreicht?

Das ist das Tragische. Sie hat geschrieben und geschrieben und all das sind Zeugnisse, ohne die wir heute nicht von ihr lesen könnten. Ich will und werde mehr von ihr lesen. Doch am Ende bleibt: Sie ist gestorben, gerade weil sie all das Denken und Schreiben in den Wahnsinn getrieben hat. Nein, sie war nicht wahnsinnig in dem Sinne, wie wir es von anderen Frauen in der Literaturgeschichte kennen. Aber sie hat ihr Leben verspielt, indem sie sich gequält hat. Und sie hat das getan, weil es sie es als “Berufung” gesehen hat. Sie konnte nicht innerhalb der Kirche arbeiten, noch nicht mal glauben. Und so hat sie es vorgezogen, heldenhaft zu leiden.

Das kann nicht Gottes Wille sein.

Oder doch?

Diese Geschichte treibt mich um.

Ich glaube an einen Gott,

der Wege bahnt.

Doch diese zu erkennen,

ist unsere Aufgabe.

Wenn der Weg in den selbst auferlegten Tod auf Raten führt,

bezweifle ich entweder Gott oder die Erkenntnisfähigkeit des Menschen.

3. Mystik

Beyer 113

Weil kannte alle Religionen. Sie kannte sie in der Tiefe aus den Schriften. Sie kannte sie aber vor allem, weil sie deren Kern erfahren hat. Das kann man nicht planen. Dafür muss man bereit sein. Ob es jemals den richtigen Zeitpunkt gibt, weiß ich nicht. Bis vor Kurzem wusste ich noch nicht mal etwas mit dem Begriff Mystik anzufangen, zumindest in der Theorie der Theologen. Als ich ihn jetzt auf dem Titel sah neben solch einem politisch konnotierten Begriff wie „Gewerkschafterin“ war klar, dass dies mein Buch werden musste. Weil hatte offensichtlich auch noch nichts oder wenig über Mystik gelesen, als sie ihr begegnete. Welche Rolle das Lesen dabei spielt, bleibt mir ein Rätsel.

Weil beschreibt hier das Lesen als geistige Nahrung. Da ist viel dran. Aber Tatsache bleibt, dass sie das ins Grab brachte. Zu früh und selbst herbeigeführt. Wie man es dreht und wendet, das sind die Fakten. Und dann bleibt da weiter die Frage, ob das der Weg ist. Was wäre gewesen, hätte Weil einen Weg gefunden, ihr geistiges Handeln in konkrete Taten umzuwandeln? Was, wenn sie als Seelsorgerin oder Krankenschwester wirklich aktiv geworden und Wertschätzung ihrer Handlungen und Nächstenliebe erfahren hätte? Hätte sie das nicht mehr „genährt“ — mit Glück und Liebe? Und hätte sie diese Liebeserfahrung vielleicht aus dem Elend geholt?

Wir wissen es nicht, aber die Frage werde ich nicht loslassen. Weil hat sich zeitlebens nicht in der Kirche gesehen. Sie konnte es nicht, so sehr sie es sich vielleicht auch manchmal wünschte. Das ist absolut verständlich. Aus der mystischen Erfahrung heraus gibt es keine Separation zwischen den Göttern und menschgemachten Denominationen. Es ist logisch, sich darin nicht wohl zu fühlen, sich damit nicht zu identifizieren in einer Weise, die echt und wahr und authentisch wäre. Doch auch hier hat sie ihr Weg nicht ins Glück und die Freiheit geführt, sondern ins Grab.

Ich werde dieser Frage nachgehen — Kirche und Wissenschaft in Simone Weil.

Reflexionsfragen

1) Was ist die wichtigste Frage Deines Lebens in diesem Moment?

2) Wie stehst Du zu dem Satz „ich denke, also bin ich“?

3) Was verstehst Du unter Mystik?

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