# 411: BOOK OF THE WEEK — “Stromgänger”
Geschichte hinter der Buchauswahl
Dieser historische Roman ist so toll, weil er so spannend ist. Wie jeder Leser auf diesem Blog weiß, schreibe ich die wöchentlichen Book Stories nicht, um Lobhudeleien oder klassische Book Reviews zu fabrizieren. Ich schreibe sie, um Gedanken zu Büchern zu teilen, die…. Ja, was denn? Sollen sie zum Lesen der jeweiligen Bücher anregen? Sollen sie überhaupt zum Lesen anregen? Sollen sie zum Denken anregen? Denken ohne Lesen geht nicht. Da bin ich knallhart. In diesem Fall hier ist es trotzdem besonders, denn ich schreibe über eine Autorin, die ich kennen lernen durfte. Ja, das hier ist nicht Dan Brown oder Stephen King — das macht aber nichts. Es ist und bleibt spannend, und zwar bis zu den letzten Seiten. Das ist keine Kleinigkeit — dafür braucht es Schreibkunst.
Dies ist das zweite Buch von Zielke, das ich bespreche. Das waren Hausaufgaben, die ich mir selbst gegeben habe, und die schon seit über einem Jahr liegen. Nun sind sie gemacht und zwar mit großer Freude. Früher zu den Anfangszeiten meiner Lesekarriere habe ich oft historische Romane gelesen. Sie haben mich dem Lesen näher gebracht, nicht unbedingt der Geschichte als Fach. All das kam jetzt wieder hoch, als ich diesen Wasserburger „Krimi“ gelesen habe. Und Zielke schreibt im Nachwort, wie viel Recherche eine solches Buch braucht, aber auch, wie nah es einen als Autorin wieder der Stadt bringt, in der man aufgewachsen ist, sofern es sich dabei eben um den Schauplatz der Geschichte handelt. Zielke nimmt einen mit — und zwar im umfassenden Sinne.
- Anselm
Ein Buch lebt von seinen Charakteren. Ja, Handlungen und Spannungsbögen sind wichtig und oft kompliziert. Aber sie sind nichts, wenn nicht die „richtigen“ Figuren dahinter oder besser davor stehen. Anselm ist fast schon ein Protagonist im Buch, auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein macht. Und er ist so fein konstruiert, dass er in sich ein wahre Wundertüte ist. Als Leser vermutet man früh, dass mehr in Anselm steckt, als man selbst und auch Theo, die Hauptfigur, am Anfang zu ahnen scheinen. Doch letztlich beeindruckt mich an Anselm vor allem, dass er sich so entwickelt. Teils tut er dies, weil er seine wahre Klugheit und Fähigkeiten zuvor hinter seiner dümmlichen Maske verbirgt. Teils möchte er sich entwickeln, z.B. dadurch, dass er das Handwerk und Lesen und Schreiben lernen möchte.
Das alles geht nur, weil Theo sich als wesentlich angenehmerer Zeitgenosse herausstellt als der, der auf den ersten Seiten überzeichnet als Grobian skizziert wird. Und genau da liegt auch, im Gegensatz zu Anselm, ein bisschen Unbehagen bei mir. Ich habe Theo schnell lieb gewonnen. Die Frage ist nur, ob das zu schnell war bzw. ob er zu schnell zu „angenehm/weich“ wird und ob das wiederum, nun benutze ich das Wort mal, auch „realistisch“ ist zur damaligen Zeit? Durfte ein Mann so „nett“ und verständnisvoll und geradezu zärtlich werden gegenüber seiner Frau, so wohlgesonnen und verständnisvoll gegenüber seinen Knechten? Ich habe keine Antwort darauf und vielleicht gibt es auch keine. Vielleicht liegt genau darin ein wesentlicher Mehrwert der Geschichte: Wir lernen über das späte Mittelalter — eine Zeit, die wir als düster und grob erinnern.
Wer weiß, vielleicht gab es mehr Theos als wir uns heute vorstellen können?
Hoffentlich gibt es heute mehr Anselms, als wir nach außen erkennen.
Wichtig ist aber, dass es einen gab, ohne den die Geschichte nicht funktionieren würde — Luther. (dazu unten mehr)
2. Wanderschaft
Heute fragte mich in einem Theologieseminar eine Studierende, was die Tattoos auf meinen Armen bedeuteten. Das eine, so schilderte ich ihr, bedeutete „Wandern/Reisen/durchs Leben ziehen“. Muss ich noch mehr schreiben, warum mich diese Passage anspricht? Ich tue es trotzdem. Bertram ist eine Nebenfigur im Roman, aber der Protagonist lässt hier durchblicken, dass ihm an seinem Gesellen gelegen ist. Sonst wünscht man niemandem, dass er „über das Handwerk und das Leben“ lernen solle. Überhaupt finde ich das eine wunderbare „Metapher“ — die Wanderschaft. Ich frage mich manchmal, wann genau meine Wanderschaft begonnen hat. Aber zu Ende ist sie noch lange nicht — vielleicht nie. Auch wenn ich um die Tücken dieses Umherstreifens weiß — wie Theo im Buch, so bin ich überzeugt, dass nur dies es erlaubt, über das Handwerk und das Leben gleichsam tief zu lernen.
Es gibt keinen Weg zurück…
3. Luther
Auf der Seite zuvor wird Theo noch vorgeworfen, er wolle mehr oder weniger die Welt retten und könne dies nicht. Die Passage oben ist eine Vertiefung dieser Aussage. Sie steht aber eindeutig, wie auch die ganze Geschichte, im Kontext von Luthers Reformation. Ob man sich damit auskennt oder nicht — fest steht, Zielke findet durch die Geschichte einen leichten Weg, die Leser/innen in die Reformation einzuführen. Es geht hier nicht um große theologische Abhandlungen — es geht vielmehr darum, wie sich die Reformation im täglichen Leben der Menschen widergespiegelt; sie berührt hat. Und zweifelsohne ist so auch der berühmte Vers aus den Evangelien zu lesen:
„Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt.“ (Mt 19,24; Mk 10,25; Lk 18,25)
Lustigerweise bezieht sich der Sprecher hier auf die „Stromgänger“ und nicht auf die Reichen, wie in der Originalbibelstelle. Das lässt den Titel des Buches wieder in den Vordergrund treten. Ehrlich gesagt spielt der Titel nur untergeordnet eine Rolle. Das ist aber bei fast jedem Buch so und daher belanglos. Viel wichtiger ist, dass der Leser im gesamten Werk viel über die damalige Zeit, vor allen Dingen über das damalige Handwerk, lernt — allem voran dem Hebammenberuf. Es ist faszinierend, dass die sogenannten Engelsfrauen verfolgt wurden, weil sie Leben retteten. Genau damit beginnt die Geschichte und auch die Gebete am Anfang der Kapitel tragen dazu bei, die Binnenperspektive einiger Figuren auf diesen Beruf zu sehen.
Kurzum, man lernt sehr viel aus dieser spannenden Geschichte, die einen auf eine Zeitreise nimmt, wie es kaum ein klassisches Geschichtslehrbuch vermag. Und genau deshalb schließe ich mit einem weiteren Zitat, damit es zu denken gibt. Auch heute noch werden Denker verschmäht und gemobbed, weil ihr Wissen nicht in Lehrbüchern steht. Doch andersherum wird denen Glauben geschenkt, die solche Lehrbücher, ohne über das Denken zu verfügen. Das ist schade, vor allem für die Frauen damals und heute, die des Lesens und Schreibens mächtig waren.
„Sie hatte ein Buch mitgebracht, komisch — ich erinnere mich sogar noch genau an den Titel, es hieß ‚ die schwangeren Frauen und Hebammen Rosegarten‘ — Grete hatte mir das Buch ein paar Tage nach der Geburt gezeigt… Wenn es sogar in einem Buch steht, das von einem gelehrten Mann geschrieben wurde, dann kann es ja eigentlich nichts mit dem Teufel zu tun haben, wenn das Kind nicht richtig aus dem Bauch kommen will, oder?“ (Zielke 223)
Reflection Questions
1) Hast Du mal jemanden gewaltig unterschätzt? Warum?
2) Warst Du jemals bewusst auf „Wanderschaft“, um Neues zu lernen? Wo hat Dich die Wanderung hingeführt?
3) Was denkst Du über die Rolle von Büchern in der Welt heute?