# 410: BOOK OF THE WEEK — “Kirche als Helferin in der Not”

Silke Schmidt
5 min readJul 17, 2022

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Reck, Jürgen Christopher (2014). Kirche als Helferin in der Not Theologie und Praxis der Notfallseelsorge in der zivilen Luftfahrt.

Story behind the Book Choice

Flughafenseelsorge ist untererforscht und das war auch so, als Reck dieses Buch auf Basis einer Diplomarbeit veröffentlichte. Das erklärt auch, warum ich mich diesem katholischen Blick widme. In der Tat liegt in der Arbeit so manche Akzentuierung auf der besonderen Bedeutung der katholischen Seelsorge als vermeintliche Erfinderin und Lenkerin so mancher Seelsorgeinnovation am Flughafen. Sei das, wie es sei. Der Autor gibt im ersten Drittel einen guten Überblick über die Grundlagen der Flughafenseelsorge international und in Deutschland. Im zweiten und dritten Teil geht es um die Seelsorge im Allgemeinen und um die Empirie rund um den Flughafen. Reck befragte u.a. Seelsorger und Umsorgte, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Ob dieser letzte Teil wirklich Relevanz für die tatsächliche Seelsorgearbeit und auch theoretische Ableitungen hat, muss jeder selbst entscheiden.

Doch ich will hier nicht die hyperkritische Wissenschaftlerin raushängen lassen; zumal mir das als Nicht-Theologin gar nicht zusteht. Das Buch existiert und ist in einer Weise geschrieben, dass es auch von jedem Laien verstanden werden kann — das ist die Hauptsache. Flughäfen üben eine wahnsinnige Faszination aus und ihre zentrale Rolle in der global vernetzten und mobilen Gesellschaft ist bedeutsam. Ja, Covid hat das Fliegen teils zum Erliegen gebracht und das allein unterstreicht das Gesagte. Flughäfen sind Spiegel der Welt und auch, wenn ich die Motivation des Buches, ein „Handlungskonzept” zu entwickeln, nicht sonderlich sinnvoll finde, so schafft es Wert, sich dem Thema in größerer Ausführlichkeit zu widmen als es so mancher Wikipedia-Eintrag erlaubt. Dass mir persönlich das Thema Flughafen im Verlauf des Buches zunehmend vom Radar verschwindet, ist meine Einschätzung. Ich möchte mich, wie immer, den Dingen widmen, die mein Denken in positiver Weise angeregt haben.

  1. Einheit
Reck 53

Bei der ersten Erwähnung vertauscht Reck die Reihenfolge der hebräischen Buchstaben. Das ist ärgerlich, macht aber nichts, wenn es einem schlichtweg um den Inhalt geht. Ich habe schon sehr oft über das Thema Ganzheitlichkeit geschrieben auf diesem Blog. Und ich tue es hier wieder, da diese Passage eine Steilvorlage ist. Mir kommt es manchmal vor, als sei der Glaube und darin die Seelsorge einer der wenigen verbleibenden Orte, an denen der Mensch als Mensch wahrgenommen und angenommen wird. Natürlich ist das in Seelsorgesituationen meist mit einer Not verbunden, oft mit einer existenziellen. Doch genau darin liegt auch der transformative Charakter.

Ich kannte den hebräischen Begriff nicht und ein Wort allein eröffnet einem meist noch keine ganz neue Welt. Trotzdem ist dies auch ein Ansporn, sich mit der Bibel in ihren Originalsprachen zu befassen. Was uns oft aus dem Blick gerät: Worte prägen Weltsicht. Und die Tatsache, dass die Einheit von Leib und Seele irgendwann mal, ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte, im Mittelpunkt des Menschenverständnisses stand, sollte uns zu denken geben. Wenn ich mir die Welt heute in ihrer Fragmentiertheit anschaue, insbesondere die Art und Weise, wie wir uns als Menschen begegnen, dann ist da leider wenig von Einheit zu spüren. Ja, wir haben einen Kopf und denken viel. Aber ein gebrochener Arm und ein gebrochenes Herz schmerzen beide. Man kann beides nicht vergleichen und doch muss man sich gewahr sein, dass das Eine nicht ohne das Andere existiert.

Wer oder was hindert uns, das nicht nur in der Flughafenseelsorge täglich zu sehen und zu leben?

2. Multioptionsgesellschaft

Reck 56

Wer mal Amerikanist war oder ist, der weiß, dass keiner um Postmodernism herumkommt. Andere Kulturwissenschaften sicher auch nicht. Mich hat das geplagt, weil am Ende nicht mehr als abstrakte und weltfremde Theorie herumkam, noch dazu von ständigem, typisch geisteswissenschaftlichem, Weltschmerz umgeben. Nun begegne ich hier wieder diesem Begriff, aber hier spricht er mich an; und zwar besonders mit dem Wort „Multioptionsgesellschaft“ gepaart. Es ist kein schickes Wort und ein sehr langes deutsches. Trotzdem beeindruckt es mich an dieser Stelle, weil es so „richtig“ ist. Ja, Flughäfen sind Schmelztiegel der Gesellschaft und es ist richtig, dass alles immer komplexer und wuseliger wird. Der Mensch ist dafür wahrscheinlich nicht gemacht oder er ist es prinzipiell doch, muss sich aber in der Praxis noch daran gewöhnen.

Mir geht es hier sehr viel weniger als dem Autor darum, eine spezifisch katholische von einer evangelischen Seelsorge am Flughafen abzugrenzen. Abgrenzung ist das Gegenteil von Einheit, zumindest meistens. Und das schafft Reibungsverluste und damit Energieverlust — Energie, die man besser den Menschen als theoretischen Abhandlungen zukommen lassen sollte oder zumindest könnte. Was ich aber wichtig und schön finde, ist es, diesem Gedanken Bedeutung zu schenken, dass Seelsorge am Flughafen vielleicht mehr als anderswo durch die unmittelbare Verbindung zu Hightech und neuster Flugindustrie diese Entwicklungen vorzeichnet und damit auch erkennen lässt, wie der Mensch damit umgeht — oder auch nicht.

3. Auftrag in der Welt der Moderne

Reck 76

In Passagen wie diesen kommt das Buch sehr innovativ und weitsichtig daher. Ja, es geht bei der Theologie immer um eine bestimmte Auslegung des Evangeliums — ob bewusst oder unbewusst. Jemand kann sich bewusst dazu entscheiden, dass ein Ort wie der Flughafen genau der richtige ist, um die Nachfolge Jesu inmitten der Menschen aller Hintergründe und Konfessionen zu leben. Genauso kann sich jemand entscheiden, dies als Pflicht seiner gemeindlichen Tätigkeit anzusehen. Damit legt er die Bibel anders aus, muss sich darüber aber noch nicht mal im Klaren sein. In beiden Fällen zählt das Ergebnis: Da sind Menschen an einem internationalen Ort, die Menschen helfen, an einen neuen Ort zu reisen — als Mitarbeiter in ihrer persönlichen Situation, als Passagiere an einen anderen Ort.

Besonders den Gedanken, dass der Flughafen eine Art Inspirationsquelle für Veränderung und vielleicht auch Forschung sein kann, finde ich beeindruckend. Ja, ich glaube daran, dass das so ist. Gerade in Verbindung mit dem zuvor geäußerten Aspekt von Technologisierung und postmoderner Verlorenheit kann der Flughafen einen Blick in die Zukunft erlauben und damit auch Hinweise geben, was der Mensch heute so braucht, um sein Seelenheil (wieder) zu finden. Erstaunlicherweise hat sich an den Bedürfnissen des Menschen eher wenig geändert. Wir haben nur häufig die Fähigkeit verloren, diese Bedarfe auch zu erkennen und dann nicht nur mit Worten, sondern gerade mit Taten, zu stillen oder annähernd zu decken.

Dafür braucht es meiner Ansicht nach keine Konzildokumente

Oder strukturierte „Handlungsanweisungen“.

Dafür braucht es Menschen,

die einfach da sind, wenn man sie braucht.

“Selig sind, die da Leid tragen;
denn sie sollen getröstet werden.” — Matthäus 5,4

Reflection Questions

1) Würdest Du jemals vor einer Reise in eine Flughafenkapelle gehen oder tust dies bereits? Warum/nicht?

2) Was sind aus Deiner Sicht Merkmale der „postmodernen“ Gesellschaft, in der wir leben?

3) Welchen gesellschaftlichen Auftrag haben aus Deiner Perspektive die Kirchen und Glaubensgemeinschaften heute? Wie passt der Flughafen da hinein?

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