# 406: BOOK OF THE WEEK — “Der Weg zur Lebendigkeit”

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Ziegler, Gabriele (1993). Der Weg zur Lebendigkeit

Geschichte hinter der Buchauswahl

Dieses kleine Büchlein aus der Münsterschwarzacher Kleinschriftenreihe ist mir auf dem Disibodenberg in die Hände geraten. Das ist nicht irgendein Berg — nicht irgendeine Klosterruine. Hier hat Hildegard von Bingen um die 40 Jahre ihres Lebens verbracht, und zwar die prägendsten. Das kann man hinterher immer sagen, wenn man weiß, was jemand im Leben geleistet hat und wo vielleicht die Wurzeln waren. Bei ihr waren es knochenharte Wurzeln und ein Lebenswerk als „Frucht“, das bis heute ganz und gar unvorstellbar ist, zumindest für mich. Hildegard ist eine — wenn nicht gar die — herausragendste Frauengestalt der Menschengeschichte. Ja, man sollte solche Superlative nicht in die Welt setzen, denn da sind die Kriterien unklar und schon kommt jemand um die Ecke und meint, es gäbe noch Millionen anderer Frauen, von denen man das behaupten könnte. Das stimmt. Ich gebe hier nur meine Sicht der Dinge wieder.

Mehr nicht.

Um das Mehr oder Weniger geht es auch in diesem Büchlein. Die Autorin beschreibt und entschlüsselt die Botschaft der Hildegard in ihrem „Ordum Virtutum — Spiel der Kräfte”. Es steht am Ende ihrer bedeutenden Schrift Scivias — Wisse die Wege. Nein, ich habe es noch nicht gelesen. Ja, ich werde es Stück für Stück zumindest teilweise lesen. Aber schon jeder kleine Auszug aus dem Werk hat es in sich und kann nicht so einfach mal eben heruntergelesen und „konsumiert“ werden. Daher ist es gut, eine Art menschlichen Lektüreschlüssel wie in diesem Fall Ziegler zu haben, die den Inhalt knapp und präzise aber hinreichend detailliert darlegt und in das gesamte Denken der Hildegard einordnet. Ob das an allen Stellen korrekt und wissenschaftlich auf dem neusten Stand ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich kann nur sagen, dass mich dieses Büchlein umgehauen hat. Es stehen viele Dinge drin, die ins Mark treffen. Es sind sogar so viele Passagen, die mich so treffen und nachdenken lassen, dass ich sie hier nicht unter den drei Ausgewählten beschreibe, denn sie sind mir schlichtweg zu nah dran an mir und an dem, was gerade meine Lebensreflexion bestimmt.

1. Tugenden

Grün in Ziegler 7

Der Begriff der Tugend ist ziemlich aus der Mode gekommen. Ein Grund dafür könnte natürlich sein, dass er so kirchlich altmodisch anmutet. Wie fast alles in unserer Gesellschaft stammen die Ursprünge der Tugendlehre auch aus der Theologie und natürlich der Philosophie — nur wissen wir das heute gar nicht mehr. Auch wollen wir es nicht wissen. Mir ist bewusst, dass ich mit solch einer sonntäglichen Literaturauswahl gerade den nicht-gläubigen Lesern viel zumute. Doch ich ermutige dazu, ein solches Werk einfach aus ganz säkularer Perspektive zu lesen. Es steht viel drin über das, was uns alle bewegt. Und das muss aus Sicht des Einzelnen gar nichts mit Gott zu tun haben. Genauso verhält es sich mit den allermeisten Erkenntnissen (außerhalb der theologischen Schriften), die Hildegard in ihrem Leben zu Natur, Medizin und allerlei weiteren Themen verfasst hat. Sie können Lebensbegleiter werden, genauso wie es Anselm Grün hier einleitet.

Das Vorwort des Bestseller Klosterautors ist hilfreich, denn schon auf dieser ersten Seite hilft er uns, den Begriff der Tugend bei Hildegard „richtig“ einzuordnen. Und die Tugend als Kraft ist ein wunderbarer Ausgangspunkt, denn er führt gleich vom Glatteis weg. Wenn wir den Begriff der Tugend heute hören, dann denken wir an Zwang und altbackene Vorstellungen von dem, wie man sich zu verhalten hat, wie man leben soll. Das alles ist genau das, was Hildegard mit ihrem eigenen Leben ohnehin nicht vorgelebt hat. Zudem ist es auch nicht das, was dem Menschen innewohnt. Denn er ist mit allerlei Antrieben und inneren Kräften ausgestattet, die es ihm erlauben, ein glückliches Leben zur Realität werden zu lassen. Und da genau kommen die Tugenden ins Spiel.

Wenn ich das Wort “Spiel” benutze, so erinnert es mich an meine tugendlose Zeit. An eine Zeit, die mich die letzten Jahre begleitet hat. Es war wenig Tugend darin, so wie ich es heute sehe. Es war viel Spiel dabei, im Sinne von Ausprobieren. Was aber fehlte, war das Erkennen, dass die eigentlichen Triebkräfte in mir noch nicht ausgebreitet waren. Der Hunger nach dem guten Leben war da und einige erste Schritte waren getan, aber das war noch kein erwachsenes Entfalten der Potenziale, wie es Hildegard versteht. Und in diesem Sinne teile ich die Wichtigkeit der Tugend als Grundvoraussetzung für ein lebendiges und gelungenes Leben, von dem ich erst ansatzweise erkannt habe, wie man es lebt. Ich komme nicht zu dieser Wertung, weil ich Hildegard lese. Ich tue dies auch nicht, weil die halbe Welt über dieses Thema (gutes Leben) spricht. Ich tue dies, weil es mich das Leben bislang gelehrt hat.

2. Disziplin

Ziegler 46

Dazu kann ich einzig und allein sagen, dass ein disziplinloses Leben ein würdeloses Leben ist. Man entwürdigt sich damit nur selbst. Es dauert aber seine Zeit, bis man es erkannt hat. Und es dauert noch länger, um all das Wissen und die inneren Kräfte zu entwickeln, um ein Leben lang in freudiger und erfüllender Disziplin zu verbringen. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht. Ich kann es nur versuchen, nachdem ich viele andere Wege nun beschritten habe und zu dieser Erkenntnis gelangt bin, die Hildegard wohl schon etwas früher im Leben ereilt hat.

3. Hochmut

Ziegler 53

Für den Fall, dass ich hier jetzt rüberkomme wie eine stehengebliebene Klosterschülerin — in der Tat sind das Einsichten, die man im Kloster gewinnen kann. Ich war aber gerade nur ein paar Tage dort, also im Kloster (nein, nicht Disibodenberg). Daran kann es nicht liegen. Es gehört aber definitiv Mut dazu, heutzutage zu solchen ganz und gar unhippen Themen zu schreiben. Und genau dahin gelangt man nur, wenn man den Mut hatte, sich seines eigenen Hochmutes zu bekennen. Die Begriffsgeschichte ist sicher spannend und würde den Rahmen einer Hildegard-Betrachtung um ein Vielfaches sprengen. Doch auch sie wusste gerade wegen ihrer vielen Krisen und Verfehlungen, dass Hochmut jeden begleitet. Und je mehr wir andere beschuldigen und je mehr wir das Leben und die Welt für Dinge verantwortlich machen, die uns nicht passen, können wir uns fast sicher sein, dass unser eigener Hochmut uns gerade in die Irre führt.

Der Witz daran ist ja, oder besser die Komplexität, dass man genau in der Behauptung, man selbst sei nicht hochmütig, schon dem Hochmut Tor und Tür öffnet bzw. offenbart, dass er einen voll und ganz im Griff hat. Mit dem Erkennen dieser Zusammenhänge, besonders in Bezug auf die Demut (humilitas) beginnt die Stunde 0, wie ich es immer nenne. Das Erkennen, dass man eigentlich ein Nichts ist, egal, wie viel man gelernt, gearbeitet und geholfen hat. Das alles kann einen zu Fall bringen, ganz besonders, weil man eben, so ist das in der modernen Gesellschahft, 80% davon eben nicht macht, weil man ein wirklich freies Leben leben will, sondern weil man denkt, die anderen denken…

Kurz und gut: Im Erkennen unseres Versagens liegt der Schlüssel darin, sich selbst und den nächsten wirklich anzuerkennen als gleichwertig und liebenswert. Wenn das passiert ist, dann kann man anfangen, nach innen zu hören, was denn nun mal dran ist, was einem entspricht, und wofür man (ein)steht. Genau dann kann man auch anfangen, die nötige Härte und Disziplin zu üben, die es bracht, um seinen Weg dann so weiter zu gehen, wie es Hildegard getan hat. Man muss verstehen, dass man hart sein darf, wenn es um die Sache geht, und sich am Abend nicht dafür schämen. Denn wer sich selbst erkannt hat, der kann andere führen und leiten auf ihrem Weg zur Erfüllung einer Vision, die den Menschen dienen soll. Das ist kein einfacher Weg. Hildegard ist ihn gegangen. Sie ist damit geistiges Vorbild und praktische Inspiration zugleich. Vor allem aber macht sie hoffentlich Neugier darauf, sich überhaupt einmal zu fragen, was das „Spiel der Kräfte“ denn so bewegen kann hin zu einem lebenswerten und erfüllten Leben.

Reflexionsfragen

1) Was verbindest Du mit dem Begriff der Tugend?

2) Teilst Du die Auffassung, dass Disziplin das Leben bereichert? Warum/nicht?

3) In welchen Momenten in Deinem Leben hast Du Dich hochmütig verhalten, es aber erst sehr viel später eingesehen? Kann es Dir wieder passieren? Warum/nicht?

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