# 397: Lotusblume

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Thich Nhat Hanh

Dieser Tage denke ich viel an die Metapher der Lotusblume im Buddhismus. Thich Nhat Hanh hat sie sehr oft benutzt in seinen unzähligen Dharma Vorträgen. Sie ist wohl die Metapher, die auch die meisten Nicht-Buddhisten am besten kennen. Sie hat mich schon immer fasziniert, sobald ich sie zum ersten Mal hörte. Aber ehrlich muss ich auch sagen, ich bin ihr nie in die Tiefe nachgegangen. Ich habe nie exakt studiert, wie Lotus wächst, was genau Lotus zum Wachsen braucht. Ja, es braucht Schlamm und Dreck und Wasser, um die Pflanze zum Wachsen zu bringen. Aber es braucht auch eine Menge anderer Dinge. Und vor allen Dingen fasziniert mich am Lotus, genau wie an jedem anderen Wunder der Natur, dass sich das Wachstum vor unseren Augen abspielt, wir es aber nicht sehen. Doch irgendwann ist da diese wunderbare Blüte, die uns den Atem verschlägt, sofern wir denn offen sind, diese Schönheit in uns aufzunehmen.

Photo by Jay Castor on Unsplash

Die Lotusblume des Schreibens ist es, die bis heute noch nicht richtig aus mir herausgewachsen ist. Beziehungsweise weiß ich gar nicht, welche Blüte wirklich am Werden ist. Das ist das Schlimmste — man hat es gerade mal durch den Schlamm und das dunkle Wasser geschafft und sich sozusagen von allem befreit, was einen noch unter der Oberfläche gehalten hat. Und dann stellt man nach einem kurzen Moment der Freude fest, dass man noch immer nicht vollends blüht. Viel schlimmer noch, man hat Angst, dass man nie blühen wird. Vielleicht hat man sich auch vollends geirrt und ist gar kein Lotus, so dass nie eine wunderbare Blüte die Welt verzaubern wird. Letzteres glaube ich zwar heute nicht, aber an genauso vielen anderen Tagen glaube ich es schon. Das ist wohl der Fluch der Lotusblume. Sie selbst kann sich nicht beobachten. Nur die anderen am Ufer sehen vielleicht, was da am Werden.

Ich weiß nach wie vor nicht, ob das Schreiben die Blüte ist oder nur die Blätter. Zunehmend denke ich, dass da eine andere Farbe hervorkommt. Sicher kann ich aber nur sagen, dass das Schreiben die Farbe ins Leben gebracht hat. Und ich weiß das deshalb, weil mich das Leben wieder daran erinnert hat. Vor einigen Monaten brachte meine Mutter mir diese drei DIN A 5 Zettel. Sie hatte sie in irgendwelchen Ordnern gefunden. Ich sah sie und erkannte sie sofort wieder. Sie waren aus einem kleinen schwarzen Ringbuch, das ich damals geführt hatte, samt ordentlich nach Buchstaben aufgeteiltem Register. Eben jenen kleinen Ordner hatte meine Mutter nun für Kontoauszüge nutzen wollen und diese Relikte aus Kindertagen entdeckt. Und genau das sind sie: Sie stammen sozusagen noch aus Tagen, in denen es keinen Schlamm in meinem Leben gab, nur unbearbeiteten Humus und ein paar Samenkörner.

Die Aufzeichnungen müssen entstanden sein, als ich in der Grundschule war. Vielleicht war ich acht Jahre alt. Genau kann ich es nicht sagen. Ich hatte mir damals ein kleines Labor hinter der Tür in meinem Kinderzimmer eingerichtet. Dort hatte ich ein Mikroskop und habe allerlei Dinge studiert; darunter eben auch tote Fliegen und Federn. Anscheinend wollte ich mir alles ganz genau anschauen und war fasziniert von dem Blickwinkel, der sich durch das Vergrößerungsglas ergab. Noch heute kann ich sehr gut das Bild im Kopf abrufen, was damals vor mir entstand. Ich kann mich auch noch an das verhältnismäßig warme gelbe Licht erinnern, das das Mikroskop auf die kleine Fläche darunter warf. Überhaupt war dies eine wunderbare Zeit, in der ich Entdeckerin war, auf Bäume kletterte und später sogar Stabheuschrecken in einem kleinen Container züchtete.

Heute schaut meine Mutter darauf und sieht es als Beginn meines schreibenden Daseins. Ich selbst sehe es auch darin. Ich bin erstaunt, mit welcher Sorgfalt ich damals die Details beschrieb. Allerdings frage ich mich heute auch, was nun daran das „Wichtige“ für mich war. War es das Analysieren, die Naturwissenschaft dahinter, oder war all das eigentlich nur ein Grund, etwas aufzuschreiben? Diese Frage ist alles andere als banal. Sie ist eine, die mich heute noch umtreibt und nicht beantworten lässt, welche Farbe ich als Lotusblume nun habe. Immer und immer wieder begegne ich der Frage, was ich denn nun genau tue. Wenn ich sage, “ich schreibe”, dann kommt immer eine Nachfrage bzw. auch der Hinweis, dass “Schreiben” allein nichts bedeute. „Du musst doch Expertin zu etwas Bestimmtem sein und darüber schreibst Du.“ Das ist so ein typischer Satz. In Deutschland muss man ja zu allem Experte sein. Wenn ich dann sage, dass Schreiben meine Expertise ist, dann reicht das nicht.

Wann reicht man sich und der Welt eigentlich?

Ich werde diesen Fragen heute nicht weiter nachgehen. Denn ich weiß, dass es darauf keine Antwort gibt, die irgendwelche logischen Turnübungen heute finden könnten. Das ist das Wunderbare, das man, so man sich denn für diesen Weg entscheidet, irgendwann lernt: Die wirklich großen Fragen kann niemand mit wissenschaftlichem Schlaubergertum beantworten. Schade nur, dass wir weiterhin in einer Welt leben, die das so verheiligt. Die Kreativität, diese einzigartige Kraft des Menschen, die ihn mit der Natur vereint, ist zurück in den Schlamm gedrängt worden. Sie ist kaum zu sehen, wird nicht beachtet. Kinder, kleine Lotusblumen im Werden, werden unter der Wasseroberfläche erstickt, um ja nicht den Weg der Schönheit zu gehen. Man möchte heute keine bunten Farben mehr, man will überhaupt keine Lebewesen im Teich. Alles muss schön sauber und akkurat und logisch nachvollziehbar sein.

Nur ist das Leben eben nicht so.

Wenn ich mich hier selbst beim Schreiben meiner Zeilen beobachte, dann wird sehr klar, dass die Lotusblume sich langsam öffnet. Es scheint, als wäre der Frühling eine Einladung, das trübe Wasser einfach so anzuerkennen, wie es ist. Und es ist Zeit, anzunehmen, dass auch dieses kalte Wasser dazu beigetragen hat, dass die Blume wachsen konnte, auch im Verborgenen. Sie hat sich ihrer Natur gemäß Richtung Wasser entwickelt. Sie hat sich von ihrer eigenen schmutzigen Vergangenheit nicht klein machen lassen. Sie hat sich einfach weiter selbst in die Welt geschrieben. Ob das nur der Weg oder schon das „Ziel“ ist, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall bin ich berührt davon, welche Farben schon immer da waren. Und ich bin traurig darüber, wie viele Stimmen die Farben grau machen können. Aber das Gute ist, die Natur kann nicht bezwungen werden. Der Lotus bahnt sich seinen Weg. Und je stärker der Wunsch, den Menschen mit der Schönheit Freude zu bereiten, desto reiner wird das Wasser.

Es ist noch ein langer Weg bis zur Blüte.

Doch es gibt kein Zurück.

Die Farben der Texte aus Kindertagen zeigen mir den Weg.

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