# 388: Vorstellungskraft und Führung

Mary Parker Follett (1868–1933)

Es gibt einen Krieg in Europa, Menschen übernachten in Bunkern und es braucht noch nicht einmal Big Data oder ausgefeilte Künstliche Intelligenz (KI), um den Kriegstreiber auszumachen. Viel schlimmer noch, ich vermute, all diese vermeintlichen Innovationen haben dazu beigetragen, das alles vorher zu sagen. Aber es hat mal wieder keiner gehört, entschieden und gehandelt. Wie wir seit Corona wissen, machen Daten nur Sinn, wenn jemand darin auch Sinn erkennt. Das geht nur, wenn man dazu die Bereitschaft und das Denkvermögen hat. Das alles ist jetzt trotzdem Nebensache, denn wir wissen, was wir vorher auch schon wussten: Krieg funktioniert noch wie vor 80 Jahren — nicht im Cyberspace und mit Laserschwertern, sondern mit Panzern, Raketen und Bodentruppen.

Willkommen in Europa, solange es noch lebt.

Ich möchte heute nicht darüber schreiben, was jetzt wohl passieren möge oder wie genau das jetzt passiert ist. Vielmehr möchte ich ein paar Gedanken teilen zu einem Satz, der gestern bereits häufig zu hören war und mich hat nachdenklich werden lassen: „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass…“ Dieser Satz ist machtvoll, da wir uns alle irgendwie ertappt fühlen können. Es gibt vieles, das man sich nicht vorstellen konnte und nun sind binnen kürzester Zeit gleich zwei Ereignisse eingetreten, die offensichtlich die Vorstellungskraft der aktuellen Generation gesprengt haben: Wir hatten/haben eine Pandemie, die wir sonst nur aus den Geschichtsbüchern unter Titeln wie Pest und Cholera kannten. Und nun haben wir einen Krieg, den wir bestenfalls noch von den Erzählungen der Großeltern kannten.

Und nicht zu vergessen: Vor nicht mal einem halben Jahr haben wir Afghanistan fallen sehen.

Hups…

Ganz schön viel Unvorstellbares in kurzer Zeit.

Ich will nicht zynisch sein. Was ich will, ist, ein bisschen darüber zu reflektieren, welche Rolle die Vorstellungskraft spielt — oder eben auch nicht mehr. Damit will ich nicht sagen, dass ich mir, nur weil ich zur schreibenden Zunft gehöre, alles vorstellen kann. Für mich ist es nach wie vor nicht vorstellbar, wie das funktioniert, dass Flugzeuge wirklich in der Luft bleiben, dass Menschen ins All fliegen und auf die Erde herab schauen. Ja, auch die Tatsache, dass diese Zeilen, die ich hier tippe, auf magische Weise von einer Tastatur auf den Bildschirm wandern und mit einem Klick im Internet Leser erreichen können — all das ist für mich unvorstellbar und ganz und gar unfassbar, weil ich weiter nicht im Detail verstehe, wie das genau funktioniert.

Sind es nicht die Rätsel, die das Leben wunderbar machen, weil wir nur so erkennen, was wir nicht verstehen mit Menschenverstand?

Wenn ich aber von der Vorstellungskraft in Verbindung mit dem Krieg heute spreche, oder auch mit den vielen Kriegen, die eben nicht vor unserer „Haustür“ aber eben doch täglich in vielen Ländern herrschen, so meine ich die Fähigkeit, vielleicht sogar den Willen, sich die Dinge vorstellen zu können. Im Grimmschen Wörterbuch findet man da in der ersten Zeile gleich die Definition der “geübten Vernunft” und einen Hinweis, dass Vorstellungskraft auch etwas mit Empfindsamkeit des denkenden Menschen zu tun hat. Beides ist an und für sich schon bemerkenswert. Ich denke aber auch an einen weiteren Begriff, den Helmut Schmidt mal in einem Zitat prominent gemacht hat. Man weiß ja in Zeiten von Fake News nie so recht, ob er das war. Es spielt aber hier keine Rolle. Auch wenn den Satz jemand anders gesagt haben sollte, wäre er zitierwürdig an dieser Stelle. Der Satz geht in etwa so:

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“

Ich habe einen Kollegen, der würde das genauso unterschreiben. Er kommt aus der Management- und IT-Zunft. Er hält nichts von Visionen und Ideen. Er glaubt nicht daran, dass die besten Ideen — und Visionen sind nach meiner Definition nichts anderes als große und noch dazu wertgetriebene Ideen — sich durchsetzen und damit Wirkung in der Welt haben. Ich wiederum glaube, dass er sich das insgeheim wünscht , aber im langen Berufsleben erfahren hat, dass es oft nicht so ist. Jedenfalls glaubt er an die Umsetzung. Ohne Umsetzung ist alles nichts. Und man kann heute hinzufügen: Mit viel Geld kann man jede Idee umsetzen, egal, mit wie wenig Vorstellungskraft sie entstanden ist.

Nun aber zurück zu Schmidt: Man kann die Lehre daraus auch anders ziehen als mein Kollege es tun würde. Gemeinhin wird der Satz so ausgelegt, dass Visionen nichts taugen und der Visionär verrückt ist. Ich möchte mal eine Alternative ins Spiel bringen: Vielleicht ist nichts verkehrt am Visionen haben und der Arzt als Naturwissenschaftler und Handwerker ist eben genau dazu da, die richtigen Instrumente, neudeutsch Tools, zur Umsetzung bereit zu stellen. Es geht also nicht ums Heilen sondern ums Machen — um das in die Welt bringen von Ideen.

Was das nun alles mit der Vorstellungskraft und dem Krieg zu tun hat, wurde mir in den letzten Monaten immer wieder deutlich. Ich habe zum Beispiel einen Kurs zu Afghanisch-Amerikanischen (Auto-)Biographien unterrichtet und darin Experten eingeladen, u.a. auch welche, die aktuell in Afghanistan sind oder aus dem Land kommen. Afghanistan ist nicht die Ukraine, natürlich, und man sollt Kriege nicht unmittelbar vergleichen. Aber leider weiß auch jeder, dass menschliches Leid universell ist, egal, ob nun kleine Raketen oder große auf kleine oder große Häuser fallen. Gestorben wird immer gleich. Und gehungert auch. Und traumatisiert sowieso.

Jedenfalls hörte ich auch von meinen Studierenden am Ende häufig den Satz: „Jetzt, wo ich diese Menschen hier gehört und gesprochen habe, kann ich mir wirklich vorstellen, was dort passiert.“ Einige fügten noch hinzu, dass man ja täglich in den Nachrichten die Bilder sehe und darüber höre. Aber vorstellen könnte man sich das eben nicht. Nur wenn man dann leibhaftig einem Menschen gegenüber säße (auch virtuell), der darüber berichtet und das alles selbst erfahren habe, da würde einem das bewusst. Und nicht nur dann: Auch wenn man die Lebensgeschichten eben jener Menschen in Kriegsgebieten lese, so wie wir das getan haben in dem Kurs, da würde man langsam verstehen

Ich schreibe das hier nicht, um Reklame für meine Seminare zu machen. Wenn ich überhaupt für etwas im Leben Reklame mache, dann sind es die Themen Führung und Bildung. Leider braucht man dafür heutzutage, in der Wissenschaft ganz besonders, noch viele fachliche Bezeichnungen, didaktische Modewörter und allerlei antragstellerische Turnübungen, um das an die Menschen zu bringen. Das ist ein anderes Thema, das ich in meinen Beiträgen zur Wissenschaft schon oft behandelt habe. Was ich nur sagen will: Es braucht auch im 21. Jahrhundert offensichtlich dringender denn je Menschen, die ihre Vorstellungskraft schulen, und zwar u.a. mit dem Lesen von Büchern und dem Nachdenken und dem kritischen Reflektieren.

Das machen die Geisteswissenschaften — unter anderem.

Wenn man das nicht mehr macht, dann kommen offensichtlich Führungskräfte dabei heraus, die sich nicht vorstellen können, wie Krieg ist. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man friert. Sie haben keine Ahnung, wie es ist, wenn man plötzlich morgens aufsteht, und sagen muss: „Gestern hatte ich noch eine Familie. Heute bin ich allein. Sie sind alle tot.“ Wie das ist, wenn man nur noch das hat, was man am Leibe hat. Und vielleicht eine Plastiktüte mit Fotos. Und ein paar Münzen, mit denen man Brot kaufen kann — wenn es welches gibt. Wie das ist, wenn man Panik hat, weil man Geräusche in der Luft hört, die Raketen bringen. Und wie das ist, wenn man Menschen sieht, die gar nicht mehr aussehen wir Menschen, weil ihnen der Kopf fehlt oder andere Gliedmaßen, die der Mensch als menschlich wiedererkennt.

Das alles kann sich wohl trotz der vielen schönen hochauflösenden Bilder in den Nachrichten, den Filmen aus Hollywood und den Ballerspielen im Web keiner vorstellen.

Jedenfalls nicht so, dass es bei ihm etwas auslöst.

Handeln nämlich.

Noch mal, ich möchte damit nicht behaupten, dass ich mir alles Unmögliche vorstellen kann. Aber ich frage mich doch, warum es offensichtlich immer mehr Eskalationen braucht, damit sich Menschen auf allen Gesellschaftsebenen Dinge auf eine Weise vorstellen können, dass sie sie wirklich berühren — dass sie die Grenzen von „Welt“ und „ich“ überschreiten. Nur so ist es offensichtlich möglich, dass Menschen ins Handeln kommen. Demnach braucht es also doch „Visionen“ als die Kraft, sich Dinge vorzustellen, die eben eintreten könnten in naher Zukunft. Sie sind aus Gedanken und Ideen, nicht aus empirischen Daten gemacht. Aber offenbar können sie jederzeit zur Realität werden.

Überraschend ist das alles nicht.

Traurig schon.

Und irgendwie nicht ganz unbekannt.

Mehr oder wenig bekannt ist nämlich, dass gerade die Deutschen es mit Visionen und großen Ideen nicht so haben. Auch beim Handeln hapert es offensichtlich. Beides sind kulturelle Muster, die wir gern mit den USA verbinden. „Visionary thinking“ und „just do it“ — dafür stehen die “Amis,” die Verrückten. Wir Deutschen sind solide und glauben an “Fakten.” Ja, leider ist das wohl so. Erst wenn wir die traurigen Fakten in Form von Opferstatistiken und Berichten mit Unterschrift und Stempel auf dem Tisch haben, handeln wir. Das macht uns offensichtlich aus, hat uns als German Engineers auch reich gemacht.

Jetzt sind wir arm an Empathie und Innovationskraft.

Wenn es eines gibt, das den Menschen in der Ukraine, Afghanistan und überall auf der Welt, wo Bomben fliegen, helfen kann, dann ist es mit Sicherheit, da brauche ich kein Big Data Zertifikat oder hellseherische Kräfte: HANDELN. Genau das wünschen sich die Menschen, die man in der Zeitung dann als Opfer betitelt, weil das so schön anonym und sachlich klingt. Handeln bedeutet eben nicht, dass man Pläne für Sanktionen schmiedet und zuschaut, wie eine tickende Zeitbombe die Welt regiert. Aber Handeln kann auch nicht heißen, dass wir mit Bomben reagieren. Das ist klar. Und es kann auch nicht jeder Deutsche Flüchtlinge aufnehmen oder sich bei der Bundeswehr melden.

Das stelle ich mir nicht so vor.

Was ich mit Handeln meine, ist, dass jeder in seinem Umfeld und in seiner Lebenssituation einmal nachdenkt, was er tun kann, um Menschen zur Demokratie zu bilden. Damit ist zuallererst Folgendes für mich verbunden: Der Mut, den Mund aufzumachen und auf Basis der eigenen Vorstellungskraft, Dinge zu verändern. Dafür braucht es immer auch Führung — und zwar die Führung von sich und von anderen, mit denen man etwas erreichen kann. Und um das zu tun, braucht es überhaupt erst einmal eine Idee davon, was man denn mit der eigenen Zeit tun könnte. Man braucht einen geraden Rücken, eine aufrechte Haltung und eine klare Stimme. Man braucht auch Vorbilder, die wider alle Widrigkeiten diesen Weg vorzeichnen.

Diese Vorbilder findet man in der Geschichte immer wieder. Heute finden sie viele auf YouTube und Co. Ich würde mir wünschen, dass wir wieder mehr davon in unseren Bildungseinrichtungen sehen — damit meine ich Schulen, Universitäten und auch Firmen. Ja, auch letztere sind Orte des Lernens. Jeder Tag ist eine Chance für jene, die Menschen anleiten, zu zeigen, was man mit ein bisschen Vorstellungskraft alles erreichen kann. Das geht besser, wenn man selbst an sich glaubt. Und dafür braucht es auch Erfahrung — die Erfahrung nämlich, mit den Menschen zu sein und ihnen zuzuhören.

Im Lesen und Sprechen.

Im Beten und Singen.

Im Denken und Schreiben über das,

was vorstellbar ist,

aber hoffentlich nicht eintritt…

Reflexionsfragen

1) Was ist in Deinem Leben eingetreten, das Du Dir bis dato nicht vorstellen konntest?

2) In welchem Bereich Deines Lebens übst Du Führung aus?

3) Kannst Du Dir vorstellen, dass wir wieder Krieg in Deutschland haben — bald?

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