# 382: BOOK OF THE WEEK — „Schöne Dinge Unterwegs (Band 3)“

Silke Schmidt
10 min readJan 9, 2022

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Weißflog, Uwe, Hrsg. + Initiator (2019). Schöne Dinge Unterwegs. Band 3.

Geschichte hinter der Buchauswahl

Seit bald 1,5 Jahren blogge ich jetzt sonntags über ein Buch, das ich neu gelesen habe. Meistens handelt es sich dabei um Bücher, die es „nur einmal“ gibt. Auch wenn ein Autor mehrere Romane schreibt oder ein Experte mehrere Fachbücher, so geht es mir jeweils immer nur um das eine Werk. In diesem Fall hier wäre es falsch, die anderen vier Bände nicht anzusprechen, die es neben diesem 3. bereits gibt. “Warum so viele? Steht denn immer etwas Neues drin”, möchte man fragen? Die Antwort darauf steckt im Konzept: Es geht um „schöne Dinge“ — es geht um Kunst.

Und da geht es immer um Unikate.

Auch bei den Menschen dahinter.

Und bei den Menschen davor.

Mein persönlicher Glaube, und da mag mir der Herausgeber und Initiator Uwe gern widersprechen, ist, dass die Anzahl der Bände nicht nur “schöne Dinge unterwegs” zeigt, sondern auch die Reise dahinter. Es geht hier nicht allein um die Gegenstände, die man bei Ausstellungen an dem ein oder anderen Ort betrachten kann. Es geht auch um die innere Reise, die Menschen machen, die sich auf “diese Welt“ einlassen, wie es Uwe selbst im Vorwort formuliert. Nicht jeder wird als Kunstliebhaber geboren. Und schon gar nicht wird jeder als Künstler geboren — zumindest denken wir das. Am Ende sind wir alle Künstler, sofern wir es wagen, den Mut zur Reise zu uns selbst zu haben. Wie hat es Max Planck formuliert?

„Für den gläubigen Menschen steht Gott am Anfang, für den Wissenschaftler am Ende seiner Überlegungen.“

Ich persönlich glaube, mit der Kunst und den Managern ist es ähnlich, nur etwas anders.

Für den Manager steht die Wirtschaft am Anfang seiner Tätigkeit, für den Künstler am Ende seiner Überlegungen.

Wirtschaft spielt deshalb eine Rolle, weil es Uwe und mich irgendwie verbindet — oder auch nicht. Ich schreibe hier an dieser Stelle selten über persönliche Beziehungen oder Gespräche, die ich mit Autoren habe, sofern ich sie überhaupt kenne. Heute fließen diese Gedanken automatisch in meinen Text ein, denn sie sind auch Teil der Kunst — irgendwie. Wenn im Buch von „Berufung“ die Rede ist, dann geht es genau darum: Von der Kunst zu leben heißt, Berufung zu leben. Das ist leichter gesagt als getan. Nicht nur das Überleben im wirtschaftlichen Sinne ist nicht leicht, auch das Finden der Berufung kostet meist einiges an Mühe — an „Kurven“, wie es mir eine liebe Freundin in einer Weihnachtskarte geschrieben und gemalt hat.

SW

Uwe und mich verbinden diese Themen, weil wir uns nicht nur als Coaches kennen gelernt haben, sondern auch als Autoren. Genauer gesagt war er damals der Autor und ich die Helferin am Text. Damals war Kunst noch nicht im Fokus — zumindest nicht aus meiner Perspektive. Ich konnte mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen und kann es heute irgendwie immer noch nicht so recht. Das klingt abwertend, ist aber das Gegenteil. Wie jeder weiß, der meinen Zeilen jemals gefolgt ist, sich auf sie eingelassen hat, weiß, dass Schreiben meine Kunst ist. Ich kann mich nur darin so ausdrücken, dass das Geschriebene mir und meinen Gedanken entspricht — man könnte auch sagen: ‘gerecht’ wird.

Heute ist Uwe der Kunstwertschätzer und -beschreiber. Das war er damals schon, glaube ich, aber nicht in dieser Form. Heute sieht er nicht (nur) die Kunstobjekte, sondern vielmehr die Menschen dahinter. Das soll nicht heißen, dass er damals keine Menschen sah, nur war es eben, glaube ich, auch eine Reise — ein Unterwegssein eben. Auch bei mir hält die Reise zum Menschen an. Und dabei habe ich beim Lesen eines gemerkt: Ja, die Objekte auf den vielen wunderbaren Illustrationen faszinieren mich alle. Aber mein Fokus liegt immer auf dem Künstler — auf dessen Reise zum Schaffen, auf dessen Perspektive und Beschreibungen, auf seinem Schauen auf die Welt.

Dieses Schauen ist es, das alle Kunst verbindet. Und es verändert sich auch. Mit jedem neuen Material und Objekt ist ein neuer Blick gefragt. Ja, jeder Künstler hat seinen „Stil“, seine Themen und Eigenarten, aber letztlich ist nur der Künstler Künstler, der aus dem Vorhandenen etwas kreieren kann, das dem Material entspricht. Es ist nicht ein Ummodellieren oder –funktionieren. Es ist kein Überstülpen der eigenen Ideen auf das Material. Es ist das Gegenteil: Wie einige der Beitragenden im Band erklären, ist es immer wieder das Herausarbeiten und Hervorheben dessen, was irgendwie schon im Material steckt. Es ist „Detektiv spielen“, wie es der Beitragende Michael Groh beschreibt.

Und diese Detektivarbeit zwingt den Erschaffer und Betrachter gleichermaßen, immer weiter „unterwegs“ zu bleiben. Auf der Suche nach Material treibt es viele in die Natur, zum Beispiel bei alten Hölzern. Andere suchen und kaufen ihre Stoffe und kulinarische Schätze auf der ganzen Welt ein. Der Betrachter muss sich gleichermaßen immer wieder auf die Suche nach dem Gegenstand selbst und nach dessen Geschichte machen. Diese physische und geistige Beweglichkeit ist es, die letztlich die Seinswelt des Künstlers in besonderer Weise vom Rest der Menschheit zu unterscheiden scheint.

Und das ist wunderschön.

Aber auch irgendwie schade.

Wie ist es mit dem gedanklichen Unterwegssein bestellt ins unserer Welt?

Man muss bedenken, dass dieser Band noch vor Corona 2019 erschien. Keiner braucht sich lange auszumalen, wie es der Kunstwelt seit Beginn der Pandemie ergangen ist. Wir wissen es. Die Nachrichten erzählen es. Wir verdrängen es. Gerade die hochwertigen Kunstmärkte, die das Buch als Dreh- und Angelpunkt der Vorstellungen nimmt, mussten wortwörtlich einpacken über die meiste Zeit. Keiner weiß, ob und wann es sie in der Form wieder geben wird. Ich glaube zwar auch an die Kraft des Haptischen. Ich weiß aber schlichtweg nicht, wie viele es wirtschaftlich schaffen werden, ihre Kunst weiter greifbar zu machen. Das ist die Schattenseite der Beweglichkeit von kreativen Geistern:

Sie können viel.

Leider müssen sie das auch.

Oft auf Kosten der Berufung.

Ich wollte gar nicht so viele Worte zum Eingang machen und doch war es mir wichtig, hier den Hintergrund der “Schönen Dinge” zu beleuchten. Dies ist kein Band, der als Katalog zu verstehen ist. Für mich ist es, neben der Darstellung der Künstler und ihrer Arbeitsmethoden und Objekte, auch ein Reisebericht des Herausgebers und seiner wachsenden und spürbaren Begeisterung für eine Welt, die so viel mehr vom Leben, vom Sterben und von der Freude des Menschseins versteht als alle Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Das ist ein anmaßendes Statement, ich weiß, aber als Künstler darf ich mir auch die Freiheit zur Frechheit nehmen — was ich inspiriert von den 49 Kreativen in diesem wunderbaren Buch gern tue.

1. Allein in der Werkstatt

Schmitt 23, Taschen und Accessoires aus Filz

Dieses Thema, „allein mit sich und dem Material in der Werkstatt“ zu sein kommt an so mancher Stelle im Buch vor. So gut wie alle beitragenden Künstler/innen (mit Ausnahme von größeren Schreinerteams in Betrieben vielleicht) arbeiten als Einzelkünstler. Das mag zunächst einmal nicht sonderlich erstaunlich sein, doch allein das ist heutzutage, zumindest aus meiner Sicht, ein Alleinstellungsmerkmal der Kunst und ihrer Menschen. Da sitzt oder steht jemand stunden- und tagelang mit seinem Material um sich und dem Werkzeug in der Hand in einem kleinen Zimmerchen oder einer größeren Werkstatt. Da ist sonst nichts — zumindest nicht sichtbar. Doch innen drin, da ist alles — da ist die Welt der Ideen und da ist der Duft und die Wärme des Materials. All das reicht, damit der Künstler zwar „allein“ aber alles andere als einsam ist.

Wo trifft man das heute noch?

Ich will hier nicht wieder Kulturpessimist oder Gesellschaftskläger spielen, aber es gibt heute kaum noch einen Ort, wo man dem Menschen zutraut, dass er ALLEIN hervorragende Ergebnisse zustande bringen kann — und zwar überhaupt nur dann. Überall ist Gruppenzwang und Team-Geworkshoppe angesagt. Das ist alles sehr sozial und nachvollziehbar. Prinzipiell hilft es den Menschen, gerade am Arbeitsplatz, sehr, wenn sie im Austausch sind. Doch der Künstler braucht das nicht — er will es nicht, zumindest die meiste Zeit. Seine Welt sind die Ideen im Kopf und jene, die ihm sein Material erzählt. Die bahnen sich ihren Weg in die Welt durch den Erschaffensprozess. Alles Überflüssige stört dabei. Nein, es stört nicht nur, es macht das Schaffen von Beginn an unmöglich.

Wie könnte ich diese Zeilen hier schreiben, wenn ein Mensch neben mir sitzen würde?

Wenn jemand im gleichen Büro telefonieren würde?

Wenn dies hier überhaupt ein Büro wäre mit grauen Wänden oder bunten Designermöbeln?

Vor der Pandemie ist das kaum jemandem aufgefallen, wie es um die ALLEINIGE Schaffenskraft des modernen Menschen steht. Heute ist es vielen schmerzlich bewusst geworden, dass sie allein einfach nichts mehr zustande bringen. Dabei geht es nicht um das Zustandebringen an sich. Die Menschen können vieles und wollen noch mehr. Nur können sie offensichtlich kaum mehr mit sich allein sein. Ein Freund fragte mich vor einer Weile, ob ich „einsam“ sei. Ich sagte, vielleicht bin ich manchmal allein. Aber einsam bin ich nicht, solange ich meinen Computer mit Word und einer Tastatur vor mir habe — oder eben einen Stift und Papier.

Wohl dem, der das Leben in aller Schönheit allein mit seinem Material in der Welt der Ideen genießen kann.

2. Letzte Reisen

Munz 97, Keramikkunst

Hier geht es um Keramik und Urnen — auch das ist Kunst. Wie die Künstlerin hier beschreibt, gehört der Tod zum Leben dazu. Vielleicht könnte man es ja auch umgekehrt sehen: Vielleicht gehört einfach das Leben zum Sterben dazu? Wir müssen schon leben, um dann zu sterben. Beides nimmt uns keiner ab. Doch welch wunderbares Geschenk muss es sein, mit der eigenen Kunst dem Verstorbenen sozusagen ein „Heim“ für die Reise nach der Lebensreise zu schaffen?

Wir bleiben unterwegs, auch wenn wir denken, wir sind angekommen.

Mich hat an dieser Passage im Buch nicht nur die Kunst und die Schilderung der Geschichte der jungen sterbenden Frau berührt. Mich hat vor allen Dingen das kleine Wort „Zufriedenheit“ beeindruckt. Das ist ein wunderbares Wort, das wir heute weniger verwenden, scheint mir. Oder es ist einfach weniger in der Welt. Da steckt das Wort „Frieden“ drin. Davon ist auch später noch einmal im Buch die Rede, als es um die Open Air Exhibition in Aswan (Ägypten) geht. Da schreibt der Skulpturenkünstler Hermann Gscheider folgenden Satz:

„Meiner Meinung nach können Menschen großartiges nur in Friedenszeiten kreieren. Dies verlangt eine gemeinsame Basis im Denken, Fühlen und zusammenleben (sic).” (207)

Ich selbst glaube nicht, dass das so stimmt. Und doch ist etwas dran. Ich denke, auch in Kriegszeiten entsteht großartige Kunst. Damit ist aber nur die äußere Dimension gemeint. Die innere Dimension kann trotzdem in Frieden sein. Der Künstler kann sich durch das Schaffen den eigenen Frieden ins Herzen und ins Leben holen. Mehr braucht es oftmals nicht. Es muss nicht sein, dass der Friede immer da ist oder sich im Objekt ausdrückt. Es kann auch Wut oder Trauer sein, die im Außen tobt und sich im Schaffen ausdrückt. Ich denke trotzdem, dass das Schaffen an sich ein kleines Stück Frieden in das Leben des Künstlers und in die Herzen der Betrachter bringt.

Das können wir übrigens alle ausprobieren — auch ohne teure Kurse und YouTube Tutorials.

Man muss nur anfangen.

Das Werkzeug in die Hand nehmen.

Und das eigene Leben gleich mit dazu.

3. Holz als Meister

Hörkens 119, Bernd Pfister Woodturned Objects

Oft ist im Buch von „Autodidaktentum“ die Rede. Viele der beitragenden Künstler haben sich ihr Handwerk selbst beigebracht. Oft kamen dann später auch zusätzliche Ausbildungen dazu. An dieser Passage ist aber der Begriff des “Meisters” interessant. Und natürlich ist er für mich interessant, weil ich mich darin ertappt fühle. Vielleicht ist es ein natürlicher Teil des Selbstfindens, wie Hörkens hier über Pfister schreibt, dass man auf der Suche nach einem Meister ist. Ich glaube, diese Erkenntnis an sich hat mich, jetzt, da ich dies schreibe, mit voller Wucht erwischt. Solange man noch auf der Suche nach einem Meister ist, glaubt man, dass es etwas zu lernen gibt, das ein „richtig“ oder „falsch“ bedingt, dass es „besser“ oder „schlechter“ gibt. Ich will nicht sagen, dass es Perfektion nicht auch und gerade in der Kunst gibt. Aber für mich beginnt wahre Kunst da, wo der Künstler das alles loslässt.

Und dann braucht es keinen Meister mehr.

Ich finde mich in der Wärme des Holzes vollends wieder. Holz ist etwas Wunderbares. Es atmet. Es ist geschmeidig. Es glänzt. Ich selbst habe eine wunderbare Beziehung zu Holz, wahrscheinlich, weil es die Natur verkörpert. Die Natur ist auch vielfach vertreten im Buch, genauso wie die Intuition. Wer mit Intuition arbeitet, der folgt seiner Natur. Das ist das Schwierigste und zugleich Befreiendste, was man als Mensch wagen kann. Solange man aber unterwegs bleibt mit all den schönen Dingen im Herzen und auf den Ausstellungstischen, dann gelingt das. Wer sich etwas davon in das eigene Herz holen will, der sollte in der Tat diesen oder die anderen Bände lesen. Oder noch besser: Die Märkte besuchen.

Wer weiß, vielleicht findet sich dort mehr als “nur” die Kunst.

Man sieht bekanntlich nur, was in einem steckt.

Es lohnt sich, unterwegs zu sein…

Reflexionsfragen

1) In welcher Beziehung stehen für Dich „Kunst“ und „Handwerk“?

2) Was bedeutet es für Dich, „allein“ mit Dir selbst zu sein?

3) Welche „Meister“ haben Dich auf Deinem Lebens- und Arbeitsweg geprägt?

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